Rund tausend Menschen nahmen an den ersten Protesten von Occupy am 17. September 2011 in New York teil. Der Satz "Wir sind die 99 Prozent" wurde zum Leitspruch der Bewegung.

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Trommelwirbel. Menschen marschieren mit Rucksäcken, US-Flaggen und Plakaten durch die Straßen. "People Power", rufen sie, und: "Besetzt Wall Street." Vor dem bronzenen Bullen, der hinter einer Absperrung steht und bereits von Polizisten bewacht wird, machen sie halt. Für die Protestierenden ist er das Symbol für den Kapitalismus, für die Macht der Banken und des Geldes über den Menschen, für die Ungleichheit zwischen dem einen Prozent der Wohlhabenden und dem Rest der Bevölkerung. "Wir sind die 99 Prozent", haben einige auf ihren Plakaten stehen. "Wir brauchen eine Wirtschaft für die Menschen und von den Menschen", steht auf einem anderen.

Was an diesem Tag im September vor genau zehn Jahren als Protest von knapp tausend Menschen in New York begann, entwickelte sich über die nächsten Monate zu einer der größten Protestbewegungen in den USA, die es bis nach London, Paris, Berlin und Wien schaffte und in Summe über 700 Demonstrationen befeuerte. "Occupy Wall Street" war eine Kritik am Finanzsystem und an sozialer Ungleichheit, deren Botschaften sich mithilfe sozialer Medien innerhalb kürzester Zeit über die ganze Welt verbreiteten. Doch so schnell wie die Bewegung entstand, verschwand sie scheinbar wieder. Zwei Monate nach ihrem Beginn hatte die Polizei die Versammlungen aufgelöst. Während Occupy für viele Teilnehmer bald zu nostalgischer Erinnerung wurde, lebt sie für manche jedoch bis heute weiter.

Reaktion auf Finanz- und Wirtschaftskrise

Wie etwa für Marisa Holmes, die sich selbst als Anarchistin und Anti-Kapitalistin bezeichnet und die Proteste damals mitorganisierte. "Nach der Finanzkrise und den Demonstrationen im Nahen Osten war für mich klar, dass es auch hier Proteste geben muss, um gegen die Banken und Eliten des Landes vorzugehen", sagt die heute 35-Jährige, die als Kommunikationswissenschafterin und Filmemacherin in New York lebt, zum STANDARD. Die wirtschaftliche Rezession, die auf die Finanzkrise folgte, hatte zu jener Zeit tausende junge Menschen wie sie vor den Kopf gestoßen.

Wie viele andere war auch Holmes im Juli 2011 über einen Aufruf von Adbusters, einem kanadischen Magazin, das für seine provokative und systemkritische Haltung bekannt war, auf die aufkeimende Bewegung aufmerksam geworden. "Seid ihr bereit für einen Tahrir-Moment? Strömt am 17. September nach Lower Manhattan, baut Zelte, Küchen, friedliche Barrikaden und besetzt die Wall Street", hieß es darin, bezugnehmend auf die wenige Monate zuvor stattfindenden Proteste des Arabischen Frühlings.

Wenig später griff die Hackergruppe Anonymous die Botschaft auf und verbreitete sie in unterschiedlichen Gruppen im Netz. Unterstützung fand die Bewegung bald auch von dem prominenten Wirtschaftswissenschafter Joseph Stiglitz und dem Anthropologen und Anarchisten David Graeber, der zuvor die Unterscheidung zwischen dem wohlhabenden einen Prozent der Bevölkerung und dem Rest mitgeprägt hatte.

Führungsloses Prinzip

Am 17. September 2011 protestierten schließlich das erste Mal tausend Menschen im Zuccotti Park, einem kleinen Platz zwischen Wall Street und dem "Ground Zero", dem Standort des ehemaligen World Trade Centers. "Es kamen viele verschiedene Menschen von überall, nicht nur junge, weiße Studenten, wie oft angenommen", sagt Holmes. Gemeinsam mit 200 anderen Menschen campierte sie danach die Nacht im Park und verwandelte die Proteste in eine stationäre Versammlung. "Für mich wurde die Bewegung zu meinem Leben. Ich war Tag und Nacht dort, hielt nach Polizeikontrollen Ausschau, organisierte Diskussionen und Kochdienste."

Ausschnitte aus den Demonstrationen von damals.
PBS NewsHour

Entscheidungen sollten durch öffentliche Debatten und generelle Übereinstimmung der Teilnehmer getroffen werden. "Das garantierte, dass Occupy offen blieb, und schuf Vertrauen zwischen den Demonstranten", sagt Holmes. Viele sahen das anders. "Es gab von Beginn an große Spannungen innerhalb der Bewegung", sagt etwa die Soziologin Heather Hurwitz, die an der Case Western Reserve University in Ohio zu sozialen Bewegungen forscht und als Aktivistin Occupy nahestand, zum STANDARD. Frauen und Menschen mit nichtweißer Hautfarbe seien nicht wirklich inkludiert gewesen – "ein großes Versäumnis", sagt Hurwitz.

Proteste auch in Österreich

Occupy fand auch in Österreich Einzug, wenn auch in weit kleinerem Ausmaß. "Wir haben damals eine Kundgebung auf dem Stephansplatz organisiert. Gekommen sind nicht viele", sagt Philipp Janyr, einer der damaligen Mitorganisatoren, zum STANDARD. Die Bewegung sei darauf ausgelegt gewesen, dass alle Meinungen erlaubt sind. "Das hieß auch, dass jeder Blödsinn vorgetragen werden konnte." Sehr rasch sei die Bewegung von Verschwörungstheoretikern und Neonazis unterwandert worden.

Tatsächlich büßte die Bewegung an Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft ein, nachdem man den WU-Professor Franz Hörmann eingeladen hatte, der aufgrund "zweifelhafter Aussagen über den Holocaust" in Kritik geraten war, wie es die WU bald darauf formulierte und Hörmann vorübergehend vom Dienst suspendierte.

Keine konkreten Forderungen

Auch in den USA brachte Occupy keine konkreten Forderungen. Stattdessen entstanden vielfältige Debatten, in denen nicht nur das reiche eine Prozent, sondern auch die Finanzindustrie, die hohen Studiengebühren oder das Steuersystem kritisiert wurden. "Die Bewegung stand über Forderungen. Wir waren keine Reformbewegung, sondern eine Revolution", sagt Holmes.

Mitte November 2011 gelang es der Polizei, die Versammlung im Zuccotti Park aufzulösen, nachdem schlechtes Wetter dem Protestwillen der Aktivisten zunehmend zugesetzt hatte. Zwar gab es bis 2013 immer wieder einzelne Proteste, die mit Occupy verbunden waren. Trotzdem war damit für viele das vorzeitige Ende der Bewegung gekommen.

Konkret erreichen konnte Occupy vielen Beobachtern zufolge wenig. Die Finanzindustrie stand nach der Bewegung weiterhin da wie zuvor, an der gesellschaftlichen Ungleichheit in den USA änderte sich kaum etwas. Auch sonst führte Occupy nicht zu konkreten politischen oder wirtschaftlichen Veränderungen. Was also ist geblieben?

Vorstufe für andere Bewegungen

"Occuppy hat gezeigt, dass es möglich ist, dass sich Bürger sehr unbürokratisch vernetzen", sagt Holmes. Die Art, über soziale Medien zu kommunizieren und zu protestieren, habe später Bewegungen wie Black Lives Matter und MeToo befördert. Hurwitz sieht das anders: "Was wir aus Occupy lernen sollten, ist, wie wichtig es ist, Führungspersonen in einer Bewegung zu haben, die auch die Stimme von oft benachteiligten Gruppen vertreten. Eine führungslose Bewegung wie Occupy führt nicht automatisch zu Inklusion."

Mit Holmes einig ist Hurwitz in dem Punkt, dass Occupy geholfen habe, viele weitere Formen des Aktivismus in den darauffolgenden Jahren auf den Weg zu bringen. Viele Aktivisten hätten sich später den Black-Lives-Matter-Kundgebungen angeschlossen. Auf politischer Ebene habe Occupy Personen wie Bernie Sanders den Weg geebnet, viele Aktivisten haben damals einen inoffiziellen Wahlkampf für Sanders organisiert.

Auch die generelle Botschaft von gesellschaftlicher Ungleichheit sei durch Occupy im Mainstream angekommen. Zudem sei eine Reihe von kleineren Ablegerorganisationen aus Occupy entstanden, die sich zum Teil bis heute für niedrigere Studiengebühren, den Klimaschutz oder mehr Bankenregulierung einsetzen.

Ungleichheit geblieben

"Dass es extreme Ungleichheit zwischen den Superreichen und dem Rest der Bevölkerung gibt, ist zum allgemeinen Bewusstsein geworden", sagt Janyr. In dieser Hinsicht habe Occupy gewonnen. "Wo wir verloren haben, ist, dass sich bis heute nichts daran geändert hat."

Holmes ist nach wie vor zuversichtlich, dass die Bewegung weiterlebt. "Ich kenne viele Menschen, die sich heute in irgendeiner Form mit Themen beschäftigen, die sie damals aus Occupy mitgenommen haben", sagt sie. "Auf die ein oder andere Weise kämpfen wir bis heute." (Jakob Pallinger, 17.10.2021)