Politiker sein kann jeden treffen: Bei Bürgerräten werden Menschen zufällig ausgewählt.

Foto: Zukunftsrat/Daniel Furxer

Also eigentlich finde ich ja, dass Frauen gar nicht arbeiten sollen", sagt Johann und lässt seinen Blick kurz über einen Halbkreis aus zwanzig empörten Augen gleiten. Weil – vielleicht vor Fassungslosigkeit – niemand etwas sagt, fährt er fort. Wenn Frauen arbeiten gehen, wollen sie immer mehr: das neue Kleid, einen teuren Urlaub oder auswärts essen. Kurz: Es mache sie unersättlich – und das sei nicht gut für die Kinder, welche die Frauen ja zu erziehen hätten. Befindet Johann.

Mit dieser Meinung gehört er zu einer Minderheit – in Österreich und auch unter den Anwesenden im großen Saal der Edmundsburg in Salzburg. Zehn Menschen aus ganz Österreich haben sich an einem Septemberwochenende dort versammelt, um über die Zukunft Österreichs zu diskutieren. Und jetzt steht ebendieses Zitat von Johann, dem gelernten Fleischhauer aus Kärnten, im Raum. Theresa ist die Erste, die das Schweigen bricht. "Entschuldigung, aber wir haben 2021", sagt die Politikstudentin aus Wien. Solche Aussagen hätten heutzutage nirgendwo etwas verloren. Das sehen auch die anderen acht grundsätzlich so.

Für die eigene Meinung wird an diesem Wochenende in der Edmundsburg trotzdem niemand verurteilt – so unzeitgemäß sie auch sein mag. "Können wir diese beiden Meinungen unter einen Hut bringen?", fragt die Moderatorin in die Runde. Kurz wird diskutiert, dann schreibt sie auf das Flipchart, dass es Geld für Heimarbeit geben solle. So könne jeder Mensch frei entscheiden, ob er lieber Kinder betreuen oder arbeiten gehen wolle. Mit dieser Lösung können alle leben.

Das schwere Los

Warum diskutiert ein Fleischhauer aus Kärnten über den Dächern von Salzburg mit einer Wiener Studentin über Frauenrechte? Das Modell nennt sich Bürgerrat. Die Idee: Zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger entwickeln Ideen und Konzepte zu einem bestimmten Thema. Weltweit gibt es etliche Beispiele für die erfolgreiche Umsetzung dieses Politik-Modus.

Aber nicht immer geht dieses Projekt, das für mehr Partizipation sorgen soll, gut. Wie können Bürgerräte gelingen? Und woran können sie scheitern? Die Plattform Respekt.net, die Interessensgemeinschaft Demokratie und der Verein Mehr Demokratie starteten in Österreich schon 2020 die Vorarbeiten für das Projekt "Zukunftsrat": einen Bürgerrat, der die österreichische Demokratie weiterentwickeln soll. Die Arbeit der ehrenamtlichen Aktivisten ist verdienstvoll. Aber sie dient auch als Beispiel dafür, was bei einem Bürgerrat alles schiefgehen kann.

Rückblick in den Frühling. Es ist Ende Mai und ein guter Tag, um fremde Menschen zu besuchen. Die Sonne scheint zum ersten Mal in dieser Woche, und Caroline Hammoutene steigt am Wiener Karlsplatz auf ihr Fahrrad. An fünf Türen soll sie an diesem Samstagvormittag klopfen, um nachzufragen, ob die Leute denn einen Brief vom Zukunftsrat bekommen haben. Ob sie noch Fragen haben. Ob sie mitmachen wollen. Im sozialwissenschaftlichen Jargon heißt das: Hammoutene geht aufsuchen.

Zähes Crowdfunding

Denn ohne Menschen, die mitmachen, kann dieser Zukunftsrat kein Erfolg werden. Der ursprüngliche Plan: 30 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger entwickeln an zwei Wochenenden Ideen für die Weiterentwicklung der österreichischen Demokratie.

Doch schon der Anfang verläuft schleppend. 100.000 Euro wollen die Initiatorinnen und Initiatoren per Crowdfunding sammeln. Geworden sind es etwas mehr als 50.000. Und selbst das war mühsam. Der Zukunftsrat wird also redimensioniert: Statt 30 Personen für zwei Wochenenden sucht man nun 20 Personen für ein Wochenende. Die engagierten Ehrenamtlichen hinter dem Projekt wissen es noch nicht, aber: Es sollte nicht bei den Anlaufschwierigkeiten bleiben.

Mehr als 50 zufällig ausgewählte Menschen in Österreich bekamen Post vom Zukunftsrat – doch kaum jemand reagierte.
Foto: imago images/STPP

Hammoutene ahnt Ende Mai aber zumindest schon, dass das Aufsuchen keine leichte Tätigkeit ist. Fünf Wiener Adressen stehen auf ihrer Liste: Es sind fünf von 50, die zu diesem Zeitpunkt schon einen Brief vom Zukunftsrat-Team erhalten haben. 1000 Personendaten inklusive Adresse haben die Demokratieaktivisten dafür von der Post gekauft. Um stolze 1000 Euro.

Fehlerhafte Adressen

Erst bei der dritten Adresse auf Hammoutenes Liste wird ihr überhaupt die Tür geöffnet. "Es wäre super, wenn wir die kriegen", sagt sie, als sie die Stiegen hinaufgeht. Denn die Zielperson ist zwischen 26 und 30 Jahre alt und ihr Name klingt spanisch. "Es ist total wichtig, auch Leute mit Migrationshintergrund dabei zu haben", sagt sie. Eine repräsentative Auswahl gehört bei Bürgerräten dazu.

Die Tür öffnet dann allerdings niemand, der auf die Beschreibung aus der Liste passen würde – sondern ein junger Mann, der noch etwas verschlafen dreinschaut. Die junge Frau von Hammoutenes Liste könnte seine Vormieterin sein. Er verspricht, seine Vermieterin nach ihren Kontaktdaten zu fragen, und lässt sich die Nummer der Aktivistin geben.

Natürlich weiß Hammoutene, dass diese Vorgehensweise, nun ja, herausfordernd ist: Wer möchte schon an einem Samstagvormittag von Fremden aufgesucht werden und nach einem Brief zu einem ominösen "Zukunftsrat" befragt werden?

Hammoutene fährt weiter. Auch bei den übrigen Adressen hat sie kein Glück. Eine Woche später wird der Mann, der sich erkundigen wollte, ihr schreiben: Die Vermieterin hat die Kontaktdaten nicht, die Frau habe gar nicht in dieser Wohnung gewohnt. Die Aktivistin beschleicht das Gefühl, dass die Adressdaten ihr Geld nicht wert sein könnten.

Zwei Tage später, ein Zoom-Gespräch: Das Zukunftsrat-Team lädt zum digitalen Informationsabend für Interessierte ein. Es werden noch Menschen gesucht, die mittun wollen – nicht um am Zukunftsrat teilzunehmen, sondern um ihn zu organisieren. Zu Gast sind ein Herr, der sich nur "Greenfranz" nennen will – und sichtlich enttäuscht ist, als er von Respekt.net-Präsidentin Bettina Reiter aufgeklärt wird, dass es heute nicht um Klimaschutz, sondern um Demokratie gehen wird. Eine junge Frau dagegen hat sich angemeldet, weil sie als Teilnehmerin am Bürgerrat ausgelost wurde und gerne mehr Informationen hätte.

Und dann ist da noch Hubertus Hofkirchner: Der Chef einer Prognosefirma kennt sich entweder sehr gut mit Bürgerräten aus – oder er schafft es sehr gut, diesen Eindruck zu vermitteln. Seine Kritik verpackt er freundlich, aber dann doch sehr direkt in Fragen: Wieso gerade die Frage nach der Zukunft der Demokratie, "warum nicht etwas, wofür sich Bürgerräte eignen?" Nämlich konkrete Probleme, konkrete Fragestellungen. Diese allgemeine Themenstellung habe ihn schon bei den Klimaräten in Frankreich gestört: "Ich hab das damals schon vorhergesagt, dass das scheitern muss!"

Weltweite Experimente

Als Antwort auf die Gelbwestenproteste hatte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron 150 zufällig ausgewählte Menschen über mehrere Monate konkrete Vorschläge für ein neues Klimagesetz erarbeiten lassen. Macron versprach, die Vorschläge ungefiltert an das Parlament weiterzureichen. Als der Präsident dann Anfang des Jahres sein Klimagesetz vorstellte, kam darin aber nur die Hälfte der Vorschläge des Bürgerrats vor, die anderen Ideen tauchten nur verwaschen auf.

Gesundheit, Klima, Bildung – in zwei Tagen arbeitete sich der Zukunftsrat an den großen politischen Themen ab.
Foto: Zukunftsrat/Daniel Furxer

Macron habe sich die Vorschläge herausgepickt und den Bürgerrat benützt, um unter dem Schein der Beteiligung seine eigene Agenda umzusetzen, lautete die Kritik. Einige Teilnehmer legten sich mit der Regierung an, starteten eine Petition, einer trat sogar bei einer Regionalwahl an. Der Ton wurde rauer, auch beim Präsidenten. "Am Anfang haben sie mir geholfen. Jetzt wollen sie alles", sagte ein verärgerter Macron bei einem Treffen. Die meisten der 150 Franzosen, welche die Umsetzung der Vorschläge eigentlich begleiten hätten sollen, sind inzwischen aus dem Bürgerrat ausgestiegen. Wohl auch, weil es für die weitere Arbeit keine Aufwandsentschädigung mehr gab.

Mittel gegen Demokratie-Müdigkeit

Immer mehr Regierungen weltweit experimentieren mit Bürgerräten. Sie sind ein Versuch, Politikverdrossenheit, niedrigen Wahlbeteiligungen und dem Bild von Abgehobenheit von Politikern entgegenzuwirken. Nicht überall gehen sie so holprig über die Bühne wie in Frankreich. In Irland etwa diskutierten Bürgerräte über das Abtreibungsverbot (das danach abgeschafft wurde) oder die gleichgeschlechtliche Ehe (die danach eingeführt wurde), in Ostbelgien und in Vorarlberg können Bewohner seit Jahren selbst Bürgerräte einberufen. Bindend sind die Ergebnisse zwar nie, aber darum geht es auch gar nicht. Sie sollen Politiker, direkt von der "Quelle", mit Antworten versorgen – oder mit neuen Fragen.

Treffen des französischen Klima-Bürgerrats im September 2020. Dort bekam das Gremium Unterstützung von ganz oben – zumindest zu Beginn.
Foto: AFP/CHRISTOPHE ARCHAMBAULT

In Deutschland fand im heurigen Jahr schon der zweite bundesweite Bürgerrat statt – wegen Pandemie als reine Online-Veranstaltung. Das Parlament war dort von Anfang an eingebunden, in Österreich hielt sich die Bundespolitik heraus – noch. Denn Klimaministerin Leonore Gewessler plant einen Klima-Bürgerrat, der eigentlich schon im Sommer seine Arbeit hätte aufnehmen sollen.

Ein Zoom-Marathon wie den Teilnehmern in Deutschland bleibt den Ausgelosten des Zukunftsrats Demokratie in Österreich erspart. Sie treffen in Salzburg zusammen. Das Zukunftsrat-Team muss seine Ziele noch einmal zurückschrauben. Statt 20 findet das Team nur 16 Menschen, die bereit sind, für 100 Euro plus Kost und Logis ein ganzes Spätsommerwochenende mit fremden Leuten über Politik zu diskutieren. In der Woche vor dem großen Tag gibt es noch einmal Ernüchterung: Fünf Teilnehmer sagen kurzfristig ab, einer erscheint einfach nicht.

Skepsis bei den Auserwählten

Es sind also nur zehn Menschen, welche die Stimme des österreichischen Volkes abbilden sollen. Fünf Frauen, fünf Männer. Je drei aus Kärnten und Oberösterreich, zwei aus Wien, je einer aus Niederösterreich und Salzburg. Sieben mit österreichischen Wurzeln, drei mit Migrationsgeschichte. Die Jüngste Anfang 20, der Älteste Ende 60. Neun geimpft, einer getestet.

In der Vorstellungsrunde wird klar, warum das Aufsuchen so schwierig war. "Sketchy" war das Schreiben für Theresa, Johann vermutete eine Partei hinter dem Projekt, die meisten Werbung. Zufällig aus fast neun Millionen Menschen ausgewählt zu werden – wie wahrscheinlich kann es sein, dass es da gerade einen selbst trifft? Internetbetrüger haben die Masche wohl überstrapaziert. Melania, die aus Linz angereist ist, hat 20 Freundinnen um Rat gefragt, die sie alle bis zuletzt warnten, teilzunehmen – zu gefährlich sei das. Aber die Neugier war letztendlich größer, sagt sie.

Neugierig sind alle, aber auch verwundert. Was können sie schon zu Politik sagen? Die meisten wirken nicht so, als würden sie sich regelmäßig in hitzige politische Debatten stürzen. "Ihr seid Experten, weil ihr in Österreich lebt", macht einer der Moderatoren den Teilnehmern Mut.

Schnell kommt man vom Hundertsten ins Tausendste – Gesundheit, Klima, Medien, Demokratie, die großen Themen eben. Politiker kommen bei den Teilnehmern durch die Bank schlecht weg. "Was kann Susanne Raab? Was kann Klaudia Tanner?", sagt eine. Es brauche, so die Gruppe unisono, mehr Experten in der Politik. Einer wünscht sich etwa einen Beirat, "wo die besten Leute drinnensitzen" und der politische Entscheidungen evaluieren soll.

In ihrer Heimat Peru werde der Begriff Demokratie oft mit Korruption gleichgesetzt, sagt Melania Vargas Noa de Grasser. Umso inspirierender war es für sie, darüber zu diskutieren, wie Politik anders sein kann.
Foto: STANDARD/Pramer

Abgesehen von dem Disput um die Frauenarbeit sind sich die Teilnehmer sonst weitgehend einig. Sie fordern strengere Klimaschutzauflagen, gleiche Gesundheitsversorgung für alle, eine Umverteilung des Medienbudgets der Regierung. Und natürlich: mehr Bürgerräte. Nach eineinhalb Tagen scheinen sie Gefallen an dem vorher so ominösen Format gefunden zu haben.

Plötzlich muss es schnell gehen

Das dreiköpfige Moderationsteam schreibt wild mit, wenn die Bürgerräte reden. Am Sonntagnachmittag hängen dann 37 dicht beschriebene Flipchart-Bögen im Raum, Kleingruppen konzentrieren das Diskutierte jetzt auf eine Abschlusserklärung. Johann, der Fleischhauer, will den Satz "Der Status quo bei Frauenrechten reicht aus" hineinschmuggeln. Wieder Stille. "Ich will, dass niemand hier mit Bauchweh hinausgeht", sagt die Moderatorin. Schließlich landet der Satz entschärft als Frage auf dem Abschlussplakat. Weil für Punkt 16 Uhr die Präsentation angesetzt ist, zu der sich auch Landespolitiker angekündigt haben, muss alles plötzlich sehr schnell gehen. Mehr Zeit ist hingegen für einen ausführlichen Bericht, der für Mitte November geplant ist.

Diesen "Eindampfprozess" könnte man noch optimieren, damit "die der Öffentlichkeit präsentierten Ergebnisse wirklich jene sind, die in der Gruppe wesentlich waren", schreibt Teilnehmerin Edith ein paar Tage später. Vielleicht bräuchte es dafür etwas mehr Zeit, die Moderatoren könnten gezielter anleiten. Die Lebensberaterin und Energetikerin aus Salzburg hätte sich außerdem zwischendurch Körperübungen und Musik gewünscht, "um das Energielevel zu heben". Mehr Zeit hätte auch Theresa gebraucht. "Es war schon schwierig, in diese eineinhalb Tage alles reinzupacken", sagt die Studentin. Weiter hätte das Thema auf keinen Fall sein dürfen. Enger? "Vielleicht."

Der Tenor ist aber positiv. "Wo ich herkomme, bedeutet das Wort Demokratie auch immer gleich Korruption", sagt Melania, die aus Peru stammt und dort als Reiseführerin gearbeitet hat. Über Politik hat sie immer wieder geredet, doch nie so lange und intensiv wie beim Zukunftsrat. Zu diskutieren, wie es anders sein könnte, hat sie inspiriert. Und auch Johann ist "positiv überrascht" von dem Format. Nur von langwierigen Diskussionen hält er nichts, er musste einfach Konträreres in den Raum werfen. "Weil sonst kommt man nie zu einem Ergebnis", sagt er.

Frust, Pannen, Glück

Respekt.net-Präsidentin Bettina Reiter blickt auf eineinhalb Jahre Zukunftsrat zurück. Glücklich ist sie, weil der hyperdemokratische Prozess zwar viel Zeit und Energie gekostet, sich aber am Schluss gelohnt habe. Gleichzeitig habe es viele Frustrationen, "gruppendynamische Schwierigkeiten" und Pannen gegeben, wie sie sagt. "Wir haben uns ein bisschen größenwahnsinnig gedacht, wir können das ganze politische System in Österreich mit einer methodischen Korrektur vorführen", sagt Reiter. Nur sei das nicht aufgegangen, weil das Projekt der Politik "total wurscht" war. Thematisch sei der Zukunftsrat "doch ein bisschen zu abstrakt angelegt" gewesen. Corona habe das Vorhaben auch nicht vereinfacht. Und dann der Brief, mit dem um Teilnehmer geworben wurde, ohne Briefkopf irgendeiner offiziellen Stelle. "Ich glaube, ich hätte ihn auch weggehaut."

Das sich der misogyne Johann mit seiner radikalen Position nicht durchsetzen konnte, sieht Reiter übrigens als besten Beweis, wie gut Bürgerräte funktionieren. Gleichzeitig zeigt der Zukunftsrat auch, woran so ein Vorhaben scheitern kann. Und dass Demokratie ein hartes Stück Arbeit ist, wenn man sie ernst meint. (Sebastian Fellner, Philip Pramer, 16.10.2021)