Sebastian Kurz und sein Umfeld haben die Republik in den vergangenen fünf Jahren stark geprägt

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Die Chats zwischen ÖVP-Chef Sebastian Kurz, dem früheren Generalsekretär des Finanzministeriums, Thomas Schmid, und anderen Proponenten des türkisen Führungszirkels haben zu Ermittlungen samt Hausdurchsuchungen geführt. Vor allem haben sie die Republik erschüttert. Sie haben Einblicke in den Aufstieg, die Methoden und die Regierungsarbeit des Systems Kurz eröffnet.

Viele Tendenzen, die für politische Beobachterinnen und Beobachter schon länger sichtbar waren, können damit noch besser ausgeleuchtet und verstanden werden. Besonders krass zeigen sie die Kluft zwischen den hehren Ankündigungen, mit denen Kurz antrat, und der düsteren Realität danach. Der STANDARD gibt einen – nicht allzu christlichen – Überblick über die sieben Todsünden des Systems Kurz.

1. Nach Macht gieren

Zu glauben, es gehe Politikern allein ums Gemeinwohl, wäre gar idealistisch. Das Maß an eigennütziger Brutalität, das aus den Kurz-Chats quillt, sticht aber heraus. Da will der aufstrebende Außenminister mithilfe von Thomas Schmid den Ausbau der Kinderbetreuung torpedieren, nur um der eigenen Regierungsspitze keinen Erfolg zu gönnen. Zwar findet Schmid das Vorhaben eigentlich "geil", doch Intrige geht vor sozial sinnvollen Inhalten – Kurz bietet dafür an, ein Bundesland "aufzuhetzen". Bei Inhalten ist der ÖVP-Chef ohnehin flexibel, soweit das seinem Machtstreben dient. Bezeichnend dafür war der von Umfragen getriebene Schwenk auf FPÖ-Positionen im Zuge der Flüchtlingskrise. Wenn Stimmungsmache gegen Asylwerber dem eigenen Fortkommen dienlich ist, wird sie eingesetzt. Manch Kritiker dieses Kurses wird hinter den Kulissen mit einer Machtdemonstration überzogen. So etwa ein auf Menschenrechte pochender Kirchenvertreter, den Kurz via Finanzministeriumskompagnon Schmid mit dem Anziehen der Steuerschraube einzuschüchtern versuchte.

2. Mit Posten schachern

Treue Gefolgsleute im Dunstkreis von Kurz dürfen mit hohen staatlichen Positionen rechnen. Das krasseste Beispiel für dieses Prinzip bildete die Beförderung von Thomas Schmid an die Spitze der Öbag, die über 20 Milliarden Euro an Staatsanteilen verwaltet. Nachrichten wie "Kriegst eh alles, was du willst" und "Du bist Familie" haben sich mittlerweile ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Schmid schrieb den Ausschreibungstext für den Posten um, damit er doch noch zu seinen eigenen Qualifikationen passte. Auch bei der türkisen Suche nach Aufsichtsräten stand unkritische Loyalität als Kriterium weit oben: "steuerbar" sollten sie sein, wie es in einem Chat zwischen Schmid und Kurz heißt. Auch in früheren Regierungen gab es parteipolitische Günstlingswirtschaft. Kurz hat sie aber trotz einst gegenteiligen Versprechens penibel vorangetrieben. Zuletzt zeigte sich bei der Bestellung des ORF-Generaldirektors, dass jenen eine große Karriere vergönnt ist, die für Begehrlichkeiten der ÖVP-Führung offen sind. Unabhängige Kandidatinnen und Kandidaten treibt man so in die Resignation.

3. Marketing überhöhen

Große Ankündigung und eingängige Vermarktung gehen über alles, sachpolitisch klafft dahinter aber oft die große Leere. Dieses Muster ist über Jahre des Systems Kurz immer deutlicher zutage getreten. Mit der Kürzung der Mindestsicherung für große Familien oder für Bezieher mit geringen Deutschkenntnissen ließen sich gut Ressentiments schüren. Dass die Reform verfassungswidrig war, nahm man sehenden Auges in Kauf – die Aufhebung durch das Höchstgericht griff ja erst viele Monate nach der Schlagzeile. Die im März von Kurz angekündigten Sputnik-Impfdosen sind dann doch nie gekommen, auch das im Sommer des Vorjahres behauptete Ende der Gesundheitskrise lässt zwei Pandemiewellen später noch auf sich warten. Regelrecht absurd wird das türkise Schielen auf vermeintlich populäre Botschaften, wenn sie ohne Beachtung der Realität stur weiterverkündet werden: Die Taliban standen schon vor Kabul, da wurde noch das Abschieben nach Afghanistan propagiert. Ein substanzieller Diskurs wird bei derartiger Abkopplung von der Wirklichkeit zunehmend schwierig.

4. Parlament missachten

Eine zentrale Rolle des Parlaments besteht darin, die Arbeit der Regierung zu kontrollieren. Wie wenig die Türkisen für diese demokratische Funktion übrig haben, stellten sie beim Umgang mit dem U-Ausschuss zur Schau. Wo es nur ging, hintertrieben sie die politische Aufklärung: Die Lieferung von Akten verschleppte Finanzminister Gernot Blümel widerrechtlich so lange, bis ihn der Bundespräsident dazu zwingen ließ. Als Auskunftsperson bestand seine häufigste Antwort im Verweis auf Erinnerungslücken. Sebastian Kurz erzählte den Abgeordneten zwar mehr, allerdings deckte sich manches nicht so recht mit den später publik gewordenen Chats – die WKStA ermittelt daher wegen Falschaussage, es gilt die Unschuldsvermutung. Seither lässt Kurz keine Gelegenheit aus, das Kontrollorgan zu desavouieren. Schützenhilfe bekommt er dabei von Wolfgang Sobotka, der als Vorsitzender eigentlich neutral sein müsste, aber die Parteiloyalität stets vorzieht. Die Herabwürdigung des Parlaments brachte Kurz aber auch nach seiner dortigen Abwahl 2019 mit einem populistischen Slogan auf den Punkt: "Das Parlament hat bestimmt, das Volk wird entscheiden."

Die Fragen der Abgeordneten im parlamentarischen U-Ausschuss empörten den Kanzler nachhaltig
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5. Medien steuern

Mit einem gefinkelten Deal sollen ein ÖVP-Zirkel, eine Meinungsforscherin und die Zeitung Österreich auf Kosten der Steuerzahler die Umfragewerte für Kurz frisiert und die Kassen der Gebrüder Fellner befüllt haben. Die strafrechtlichen Ermittlungen wegen Untreue, Bestechung und Bestechlichkeit – es gilt die Unschuldsvermutung – weisen aber nur auf den Gipfel eines in sich korruptionsanfälligen Systems der Medienfinanzierung hin, das die ÖVP trotz vieler Reformvorschläge perfektioniert. Regierungswerbung wird nach Gutsherrenart verteilt, wobei die türkisen Ministerien überproportional viel Geld pro Leser in Boulevardmedien stecken. Kurz-affine Zeitungen wie Österreich werden reichlich bedient, regierungskritische Qualitätsmedien eher vernachlässigt. Dass da System dahintersteckt, hat jüngst Verleger Horst Pirker öffentlich gemacht: Nach einem ÖVP-kritischen Artikel in News habe sich das ÖVP-geführte Finanzministerium prompt mit einem Inseratenstopp revanchiert. Mit solchen Methoden wird unabhängige Berichterstattung bewusst erschwert.

6. Justiz attackieren

Kritik an der Justiz steht allen zu. Wenn aber die Regierungspartei eine Kampagne gegen die Behörden lostritt, nur weil ihr eigenes Umfeld von Ermittlungen betroffen ist, wird es für die Unabhängigkeit der Justiz gefährlich. Just ab dem Moment, als die WKStA im Casinos-Verfahren auch hochrangige Türkise zu verdächtigen begann, wurde sie von der ÖVP diffamiert. Zunächst verdeckt, als der Kanzler 2020 bei einem Gespräch mit Journalisten die WKStA beleglos als Hort "roter Netzwerke" in Misskredit brachte. Ein Jahr später war man schon plumper und setzte auf justizpolitische Rache statt Rechtsmittel: Nach der Hausdurchsuchung bei Minister Blümel konterte die ÖVP mit der – von den Grünen abgelehnten – Idee, die WKStA zu "entflechten", sprich: zerschlagen. Seit Kurz der Falschaussage beschuldigt wird, gibt es kein Halten mehr: In Pressekonferenzen zog die ÖVP gar über einen Staatsanwalt persönlich her oder erklärte Razzien vorsorglich für sinnlos. Kurz selbst stellt die WKStA als Teil einer linken Verschwörung gegen seine Person dar. Der Rechtsstaat wird in die Defensive gedrängt, bei einer möglichen Anklage dürften sich die Attacken weiter radikalisieren.

7. Keine Einsicht zeigen

Man kann Versäumnisse zugestehen, Entgleisungen bedauern und bei politischem Fehlverhalten aus eigenem Antrieb zurücktreten. Die Türkisen inszenieren sich hingegen seit jeher als verfolgte Opfer einer Kampagne, an der Opposition, Medien und Justiz beteiligt seien. Selbst nach Auftauchen jenseitiger Chats und der Korruptionsermittlungen versuchte Kurz erst, mit einem Rundumschlag zu kontern und "Leaks" zu beklagen. Autonom – ohne Druck des Koalitionspartners – zurückzutreten kam nicht infrage. Anstatt ordentlich für konkret Geschriebenes um Entschuldigung zu bitten, sagte Kurz neuerdings, er habe sich eh schon entschuldigt. Eine andere Version von Pseudoreue praktiziert Finanzminister Blümel, der sich "für den Eindruck, der entstanden" ist, "entschuldigt" hat, nachdem er vom Höchstgericht zum Rausrücken zurückgehaltener Akten verdonnert werden musste. Subtext: Für den Eindruck sind ja immer auch die verantwortlich, die ihn haben. Wie soll sich bei dieser Haltung der obersten Chefs auf unteren Ebenen eine Fehlerkultur entwickeln? (Theo Anders, 16.10. 2021)