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Blumen liegen nahe dem Tatort in der Grafschaft Essex.

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David Amess setzte sich unermüdlich für den Tierschutz ein.

Foto: imago/ZUMA Press

Trauer in Westminster: Bei einer Bürgersprechstunde in seinem Wahlkreis Southend in der Grafschaft Essex ist Freitagmittag der konservative Abgeordnete David Amess niedergestochen worden. Der 69-Jährige erlag wenig später seinen schweren Verletzungen. Die Polizei nahm noch am Tatort einen 25-Jährigen unter Mordverdacht fest. Über sein Motiv war zunächst nichts bekannt. Mit vielen andere Parlamentariern zeigte sich Premierminister Boris Johnson zutiefst bestürzt über die Ermordung seines Fraktionskollegen: Der seit 1983 dem Unterhaus angehörende Politiker sei "ein durch und durch anständiger, freundlicher Mann" gewesen.

Nach langen Monaten der pandemieerzwungenen Distanz haben die 650 Angehörigen des Unterhauses erst seit wenigen Wochen wieder ihre persönlichen Sprechstunden begonnen. Diese dienen den Wahlkreisbürgern dazu, dem lokalen Abgeordneten ihre Anliegen und Probleme vorzutragen. Den vorläufigen Ermittlungen der Kriminalpolizei zufolge war Amess gegen 12 Uhr mittags gerade erst im Gemeindezentrum der methodistischen Kirche von Leigh-on-Sea angekommen, als der Attentäter zustach. Die herbeigeeilten Sanitäter alarmierten den Notarzt, zwischenzeitlich stand auch ein Hubschrauber für den verletzten Abgeordneten bereit. Doch gegen 15 Uhr bestätigte die Polizei: Amess war vor Ort seinen Verletzungen erlegen.

Kollegen erschüttert

Parteiübergreifend äußerten sich Politiker entsetzt über den Mord. Oppositionsführer Keir Starmer sprach von einer "schrecklichen und schockierenden Nachricht". Ex-Premier David Cameron lobte Amess als "höchst engagierten Abgeordneten"; seine Nachfolgerin Theresa May sprach von einem "tragischen Tag für unsere Demokratie". Man werde über die Sicherheit der Abgeordneten zu sprechen haben, erklärte der "zutiefst erschütterte" Speaker Lindsay Hoyle.

Persönliche Angriffe auf britische Parlamentarier sind selten; allerdings bieten Sprechstunden immer wieder Fanatikern und Verwirrten die Gelegenheit zur Gewalt. Im Jahr 2000 tötete ein Geistesgestörter in Cheltenham den Assistenten des Liberaldemokraten Nigel Jones; Andrew Pennington hatte sich zwischen den Attentäter und den Abgeordneten geworfen. 2010 erlitt der Londoner Labour-Abgeordnete Stephen Timms lebensgefährliche Messerverletzungen durch eine 21-jährige Islamistin. Sie wurde später wegen Mordversuchs zu lebenslanger Haft verurteilt. Eine Woche vor dem EU-Referendum im Juni 2016 ermordete ein Rechtsextremist die 41-jährige Joanne Cox in ihrem Wahlkreis Batley bei Leeds (Grafschaft Yorkshire) mit mehreren Schüssen und Messerstichen. Ein 77-jähriger Passant, der der Labour-Politikerin zu Hilfe eilte, erlitt schwere Verletzungen.

Rechter Flügel

Amess gehörte im britischen Parlament zu den am längsten dienenden Abgeordneten. 1983 zog er für Basildon ins Unterhaus ein, wechselte 1997 ins benachbarte Southend. Von Beginn seiner parlamentarischen Karriere an konzentrierte sich der studierte Ökonom auf die Arbeit für seinen Wahlkreis; weder unter seinem Idol Margaret Thatcher (1979–1990) noch unter den seither regierenden konservativen Premierministern erlangte er jemals einen bezahlten Regierungsposten.

Innerhalb der Tory-Partei gehörte der Katholik dem rechten Flügel an, warb für die Wiedereinführung der Todesstrafe, stimmte gegen die Abtreibung und die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, setzte sich aber unermüdlich für den Tierschutz ein. Vor allem profilierte sich Amess als beredter Gegner der europäischen Einigung, warb 2016 für den EU-Austritt Großbritanniens und später für den Chaos-Brexit ("No Deal"). 2015 erhielt er den Ritterschlag. Neben seiner Frau Julia Arnold hinterlässt er fünf erwachsene Kinder. (Sebastian Borger aus London, 15.10.2021)