Es ist keine zehn Tage her, dass Sebastian Kurz von den ÖVP-Landeshauptleuten und der Opposition zum Rücktritt gezwungen wurde. Und keine Woche, dass Alexander Schallenberg vom Bundespräsidenten zum Bundeskanzler vereidigt wurde. Und schon heißt es: Er sei nur ein "Schattenkanzler", eine Schachfigur von Kurz, ein Ersatzmann. Er habe keine Chance.

Van der Bellens Auftrag: Der Neue solle die konservativ-grüne Regierung fortsetzen, für Vertrauen von Bürgern und zwischen Parteien sorgen, das Land aus der Pandemie- und Wirtschaftskrise führen – im Zug mit den EU-Partnern.

Nach holprigem Start mit übertrieben klingenden Loyalitätsadressen muss sich Schallenberg von Kurz befreien.
Foto: Christian Fischer

Die Grünen haben in der schwersten Regierungskrise seit Jahrzehnten Nerven bewahrt. Die ÖVP steht vor einer zweifachen Herausforderung. Die ganz auf Kurz getrimmte Partei ist plötzlich ein Sanierungsfall. Sie muss regieren und sich gleichzeitig neu aufstellen. Der Obmann wird sich noch lange mit Korruptionsverfahren befassen müssen.

Viele Türkise scheinen das noch nicht ganz begreifen zu wollen. Kurz ist aus eitler Überheblichkeit abgestürzt, wie Ikarus. Sein Herrschaftssystem, auf Tarnen und Täuschen von Parteifreund und Feind angelegt, ist enttarnt. Nun ist die Enttäuschung in der ÖVP groß. Anstatt weiter zu drohen, wäre die ÖVP gut beraten, etwas bescheidener aufzutreten. Sie kann noch froh sein, dass sie in der Regierung geblieben ist. Absurd, wenn Türkise Spekulationen über Neuwahlen schüren. Kurz, so will man glauben machen, werde bald ins Kanzleramt zurückkehren. Dafür spricht derzeit nichts.

Altlasten abwerfen

Aktuelle Umfragen zeigen Trends. Die Bürger wären wenig begeistert, wenn zum dritten Mal in vier Jahren gewählt würde. Und: Die ÖVP ist auf 25 Prozent Wähleranteil heruntergerasselt, Kurz ist besonders bei den Jungen unten durch. 70 Prozent der Bevölkerung vertrauen ihm nicht mehr.

Düstere Zukunft: Je mehr er als Klubchef im Parlament die Regierung torpediert, umso mehr wächst sein Buhmann-Image. Aus dem ergeben sich Chancen für Schallenberg. Er muss sie nach holprigem Start mit übertrieben klingenden Loyalitätsadressen nur ergreifen, sich von Kurz befreien. Seine Lage erinnert ein wenig an die von Franz Vranitzky 1986. Dieser wurde über Nacht Kanzler von Rot-Blau, als SPÖ-Chef Fred Sinowatz nach der Wahl Kurt Waldheims zum Präsidenten zurücktrat. SPÖ und ÖVP waren verfeindet, das Land in schwerer Krise, die Verstaatlichte pleite, einige SPÖ-Minister bald in wilde Skandale – Lucona und Noricum – verwickelt. Die Genossen fremdelten lange mit ihrem "Kanzler im Nadelstreif", dem gelernten Banker.

Aber es gelang Vranitzky, mit Stil, Sachlichkeit, Anstand einen neuen Kurs einzuschlagen – in der SPÖ wie in der Republik. Als Staatsmann führte er Österreich mit der ÖVP zum EU-Beitritt 1995.

Der Berufsdiplomat Schallenberg ist in seiner Partei ähnlich schwach verankert. Seine Schwäche ist die innenpolitische Ebene, Parteipolitik. Europapolitik beherrscht er im Schlaf. Er wirkt distanziert. Wie bei Vranitzky könnten sich seine Sprache, seine Sachlichkeit, sein Stil gerade jetzt als Vorteil erweisen. Die verbalen Schlammschlachten öden die Bürger an.

Schallenberg muss Zug um Zug Altlasten abwerfen, eine eigene Linie gehen, auch mit neuem Personal. Das braucht Zeit. Es gibt aber Signale, dass ÖVP-Landeshauptleute nun auf ihn setzen. Wer weiß, vielleicht wird die ÖVP in ein, zwei Jahren froh sein, dass sie ihn hat – wenn ein Obmann nach Kurz gesucht wird. (Thomas Mayer, 18.10.2021)