Volker Türk ist bereits seit mehr als 30 Jahren bei den Vereinten Nationen tätig.

Foto: STANDARD / Robert Newald

Der Völkerrechtler ist sich sicher, dass viele Menschen nicht wissen, welche Vorteile ihnen der Multilateralismus bringt.

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Er ist der höchstrangige Österreicher bei den Vereinten Nationen: Der 56-jährige Jurist Volker Türk ist zuständig für die strategische Koordinierung im Büro von UN-Generalsekretär António Guterres und gilt als dessen rechte Hand. Genauso wie der Portugiese glaubt er, dass nur durch eine engere Kooperation der Nationalstaaten die Probleme der Welt gelöst werden können und dass es ohne die Vereinten Nationen vielerorts noch schlimmer wäre.

STANDARD: António Guterres hat vor der UN-Generalversammlung im September seine Vision für eine bessere globale Zusammenarbeit unter dem Titel "Our Common Agenda" veröffentlicht. Wie können Nationalstaaten zu mehr Kooperation bewegt werden, wenn sich selbst in der Covid-Krise staatliche Interessen behaupten?

Türk: Für die UN war die Covid-Pandemie eine der größten Herausforderungen. Und mit den Vereinten Nationen meine ich sowohl alle Mitgliedsstaaten als auch die verschiedenen UN-Organisationen. Sie hat gezeigt, dass ein kleines Virus jeden verwundbar machen kann. Nicht nur Länder, die weit weg liegen. Sie hat dadurch eine Verbindung zwischen allen Menschen geschaffen. Auch in Österreich haben Menschen ihren Job verloren, auch hier haben Frauen unter häuslicher Gewalt gelitten.

Sie hat klar gemacht, dass wir eine Lösung nur finden, wenn die Staaten zusammenarbeiten. Vor allem beim Impfstoff hat man das gesehen. Und da hat die Weltgemeinschaft nicht so reagiert, wie wir uns das vorgestellt haben. Das Ziel ist, mindestens 70 Prozent der Weltbevölkerung zu impfen. Erst dann können wir aus der Pandemie herauskommen. Und wir quälen uns. Die Hoffnung bleibt, dass die Krise zeigt, dass nur internationale Zusammenarbeit zum Ziel führt. Sonst können wir in der heutigen Zeit für die Bekämpfung des Klimawandels, gegen den Verlust der Biodiversität und in den unterschiedlichen Konfliktgebieten keine Lösungen finden.

STANDARD: Wie kann der Bericht von Guterres eine Basis dafür sein?

Türk: Mit dem Papier stellt Guterres die Welt vor die Wahl. Wenn alle so weitermachen wie bisher, dann werden die Temperaturen um mindestens drei Grad – wenn nicht mehr – steigen. Es wird zu mehr Unwettern, Überflutungen und Stürmen kommen. Gewisse Landstriche werden nicht mehr bewohnbar sein. Innerhalb von 30 Jahren werden große Teile von Somalia beispielsweise aufgrund von hohen Temperaturen menschenleer sein. Viele Arten werden aussterben, bereits eine Million ist bereits jetzt gefährdet. Die Ungleichheit auf der Welt wird sich verstärken. Man hat gesehen, dass die reichsten Menschen von der Pandemie profitiert haben. Also entweder wir steuern auf diese Zukunft zu, oder wir ändern uns grundlegend.

Der Bericht ist ein Ruf nach fundamentaler Änderung und zeigt, dass wir das gemeinsam schaffen können, wenn wir das wollen. Vor allem den Wandel zur grünen Wirtschaft können wir hinbekommen. Und entgegen vieler Ängste werden dadurch auch mehr Arbeitsplätze entstehen.

STANDARD: Auch bestehende Institutionen sollen mehr Zähne bekommen.

Türk: Der Generalsekretär spricht oft vom zahnlosen Multilateralismus. Bei den Vereinten Nationen hat nur der Sicherheitsrat Zähne. Und selbst der hat sich in der Vergangenheit bei Krisen wie Myanmar und auch Afghanistan schwergetan. Aber der Sicherheitsbereich ist eine Sache.

Auf der anderen Seite stehen die Finanzinstitutionen wie die Weltbank und der Internationale Währungsfonds. Von denen braucht es in Zukunft eine stärkere Brücke zum Wissen der Vereinten Nationen. Die UN ist überall vor Ort. Auch dort, wo sonst niemand ist. Wenn man diese Erfahrungen in die Planung von Finanzgebarungen einbringt, dann ist das ein wichtiger Schulterschluss. So können wir die sozial-ökonomischen Auswirkungen der Pandemie bewältigen. Vor allem in vielen Entwicklungsländern sind oft komplette Einkommen weggebrochen, weil der Handel sehr stark unterbrochen wurde, es fast keinen Tourismus mehr gibt. Die Verschuldung ist enorm. Die Berichte aus den Ländern zeigen, dass es für viele Menschen eine äußerst prekäre Lage ist. Vor allem für Frauen und Mädchen.

STANDARD: Hätten stärkere UN-Institutionen in den vergangenen Wochen in Afghanistan mehr bewirken können?

Türk: Wir bewirken etwas, sind die einzige Institution, die neben den Hilfsorganisationen noch vor Ort ist. Wir waren immer dort, wir sind geblieben. Unsere Ausrichtung ist ja nicht die eines Militärbündnisses, sondern wir sind ein humanitärer Akteur. Der Generalsekretär hat sehr schnell den Notfallkoordinator entsandt, um mit den Taliban über unseren humanitären Einsatz und auch die Menschenrechtslage zu sprechen.

Aber es ist auch klar, dass auch in den vergangenen zwanzig Jahren internationale Institutionen in Afghanistan tätig waren. Man muss sich nun große Fragen stellen und Lehren aus dieser Zeit ziehen. Was hat das Engagement in Afghanistan bewirkt und was nicht?

STANDARD: Sie waren auch stellvertretender UN-Flüchtlingshochkommissar und haben sich immer wieder für eine "empathischere Dialogform" beim Thema Geflüchtete ausgesprochen. Hat es die jemals gegeben?

Türk: Ich erinnere mich schon an das Jahr 2015, als etwa eine Million Menschen nach Europa gekommen sind. Als jemand, der praktisch sein ganzes Leben mit Flüchtlingen verbracht hat, hat mich die Stimmung auf dem Kontinent gefreut. Ich habe solch eine Solidarität sonst vor allem in Ländern erlebt, die viel ärmer sind. Die Tunesier haben zum Beispiel während ihrer eigenen Revolution zahlreiche libysche Geflüchtete aufgenommen.

Aber es gab auch Reaktionen gegen diese Solidarität in Europa. Der Dialog wurde dominiert von Menschen, die mit Flüchtlingen nichts zu tun haben und wahrscheinlich nie einen Geflüchteten getroffen haben.

STANDARD: Die Berichte über illegale Pushbacks an europäischen Grenzen nehmen zu. Wird das Vorgehen der Behörden härter, oder schauen die Medien und Organisationen genauer hin?

Türk: Von Pushbacks habe ich mein gesamtes Arbeitsleben im Flüchtlingsbereich gehört. Das UNHCR und Menschenrechtsorganisationen gehen diesen auch nach. Aber man sieht im Moment, dass Geflüchtete zum Politikum werden. Dass das Schicksal der Menschen und Politik vermischt werden. Die Instrumentalisierung von Flüchtlingen zu politischen Zwecken widerspricht dem humanitären Geist.

STANDARD: Gibt es einen Weg zu einer humaneren Flüchtlingspolitik?

Türk: Man kann niemanden zu solch einer zwingen. Aber man muss die Akteure und die Menschen überzeugen, aufklären und um Verständnis werben. 2018 hat der UN-Flüchtlingspakt – bei dem ich maßgebend mitgewirkt habe – geschafft, was wir Jahrzehnte nicht hinbekommen haben. Es wurden die Last und die Verantwortung der einzelnen Staaten definiert. Im Vordergrund sind jene Länder gestanden, die tatsächlich die Hauptlasten tragen. Und die liegen nicht in Europa. 90 Prozent der Geflüchteten befinden sich im Globalen Süden. Es ist klar, dass man Länder wie beispielsweise Uganda, den Libanon, die Türkei, Pakistan oder die Länder um die Zentralafrikanische Republik tatkräftig unterstützen muss. Finanziell, aber auch durch Resettlement.

Bei dem Thema Resettlement geht die Solidarität auf und ab. 2016 hatte das UN-Flüchtlingshilfswerk noch 120.000 Plätze zur Verfügung. Nun sind es weniger als 30.000. Aber im Zusammenhang mit den Geflüchteten aus Afghanistan hat sich in den USA und auch in Europa wieder etwas getan, und es ist Aufgabe der Vereinten Nationen, dass man das wieder stärker in Gang bringt.

STANDARD: In den vergangenen Wochen sind tausende Menschen aus Haiti in den Norden geflüchtet. In dem Land sind aber bereits seit langem humanitäre Akteure tätig. Trotzdem kommt Haiti nicht aus der Krise. Hat humanitäre Hilfe auch ihre Grenzen?

Türk: Haiti ist eine besonders komplexe Situation. Es ist ein Land mit seiner eigenen Geschichte. Ein Land, in dem im Moment rund 40 Prozent der Menschen humanitäre Hilfe brauchen. Aber auch ein Land, das eine fähige Regierung benötigt. Wie müssen jenen, die an der Macht sind, helfen, damit sie für die Haitianerinnen und Haitianer sorgen können. Gleichzeitig ist auch klar, dass Haiti eines der ärmsten Länder der Welt und stark vom Klimawandel betroffen ist. Hurrikans, Überflutungen und Erdbeben setzen dem Staat zu. Die Eliten kümmern sich nicht um ihre Bevölkerung.

Die Vereinten Nationen sind schon lange dort, und wir bemühen uns, aber wir können nicht immer nur das Pflaster sein. Irgendwann müssen staatliche Strukturen übernehmen.

STANDARD: Gibt es Länder, in denen UN-Hilfe in dem Bereich geholfen hat?

Türk: Ost-Timor hat nach wie vor Probleme, hat aber den Konflikt überwunden und ist zu einem unabhängigen Staat geworden. Wir haben große Hoffnungen, was den Übergang im Sudan betrifft, und unterstützen die Zivilregierung stark. Auch der Friedensprozess in Kolumbien geht in eine gute Richtung.

Es gibt Beispiele, wo die Hilfe für Regierungen funktioniert hat. Unsere Analysen zeigen aber auch, dass wir selbst in den heftigsten Krisengebieten einen Unterschied machen. Wären wir nicht vor Ort, wäre es mancherorts noch schlimmer. Wir sind halt oft die Krücke. Etwa in der Demokratischen Republik Kongo, der Zentralafrikanischen Republik, Südsudan, Mali, Syrien, wo sonst noch viel mehr Menschen sterben würden. Und oft kommen wir aus den schlimmen Situationen auch nicht raus, weil der Einfluss von außen zu groß ist.

STANDARD: Wie frustrierend ist es für Sie, immer die gleichen Appelle an die Öffentlichkeit und an politische Verantwortliche zu richten?

Türk: Ich bin sehr motiviert und bleibe es auch nach mehr als 30 Jahren. Die Uno kann ja auch immer wieder etwas für die Menschen erreichen. Auch für die Bevölkerung in Österreich. Das Montrealer Protokoll von 1987 schützt die Ozonschicht der Erde. Für alle. Die Vereinten Nationen schützen Menschenrechte, und ihre Strukturen haben vor einem Dritten Weltkrieg geschützt. Oft ist es den Menschen nicht klar, was Multilateralismus für ihren Alltag bringt. (Bianca Blei, 18.10.2021)