Auf der Suche nach Auswegen, mit perfekter Phrasierung: US-Trompeter Lee Morgan, etwa um 1968.

Foto: Michael Ochs Archives

Es läutete den Neubeginn einer letztlich nicht zu Ende erzählten Jazzgeschichte ein: Lee Morgan, der Trompeter mit dem schneidend scharfen Spitzenton, betrat 1968 blendend aussehend den Proberaum des Hardbop-Pianisten Horace Silver. Er ging wie eine Geistererscheinung geradewegs auf dessen Saxofonisten Bennie Maupin zu und fragte ihn: "Willst du bei mir mitspielen? Ich habe ein paar Auftritte!" – Maupin, verblüfft: "Klar!" Morgan glich zu diesem Zeitpunkt einem von den Toten Auferstandenen. An seine mehrjährige Heroinsucht erinnerten lediglich Verletzungen im Mundraum, die er mit unermüdlichem Übungsfleiß auszugleichen trachtete.

Vor ein paar Saisonen hatte das Wunderkind aus Philadelphia mit Sidewinder im Radio tüchtig Airplay erhalten: Jazz war damals (noch) Tanzmusik. Morgan besaß Soul und war groovy, er phrasierte "geistreich", wie Verehrer meinten. Er hatte 1961 bei Art Blakeys Jazz Messengers gelernt, durchdringend zu intonieren. Blakey, der grinsende Förderer ganzer Kohorten von Jungtalenten, schlug hinter ihm ohrenbetäubende Wirbel auf den Tomtoms. An Morgans Seite legte bereits ein gewisser Wayne Shorter Zeugnisse seines Kompositionstalents ab.

Weg von der Bildfläche

Morgan spielte für das Label Blue Note eine Sturzflut von Alben ein; viele unter eigenem Namen, manche unter dem von Bannerträgern wie Hardbop-Ikone Hank Mobley. Als Trompeter hatte Lee Morgan den Geist Dizzy Gillespies aus Clifford Browns Händen empfangen: Er gehörte zur Generation jener, die imstande waren, alle Harmoniewechsel im Blitztempo zu absolvieren. Und dann war Morgan plötzlich von der Bildfläche verschwunden. Ehe er mit seiner (zweiten) Frau Helen wieder auftauchte. Sie ließ fortan ein misstrauisches Auge auf ihrem revitalisierten Liebsten ruhen.

Vielleicht stand Lee Morgan anno 1970 tatsächlich im Begriff, eine Schallmauer zu durchbrechen. Als er mit seinem Quintett an der kalifornischen Pazifikküste im Lighthouse Jazz Club für zwölf Sets an drei Juliabenden gastierte, schien das Tor in eine verheißungsvolle Zukunft des Jazz für einen kleinen Moment sperrangelweit offen. Morgan hatte sich für die Black-Panther-Bewegung zu engagieren begonnen. Er schloss sich dem Jazz and People’s Movement an. Warum war in TV-Shows wie der von Johnny Carson keine afroamerikanische Musik zu hören? Morgan, der Beau, trug panafrikanisches Gewand. Als er im Leuchtturm am Pazifik die Jazzfreunde begrüßte, bekundete er den Stolz des genuinen Schöpfers.

Die Ohren, bitte, hübsch gespitzt: Seine Gäste – unter ihnen angeblich Bill Cosby und Basketball-Stars von den Lakers – würden jedenfalls eine Menge neuer, für sie ungewöhnlicher Töne zu hören bekommen! Das Gros der Neukompositionen steuerte prompt Maupin bei: zum Teil sonore Motive, auf der Bassklarinette angestimmt. Morgans Mitstreiter ließ beim Improvisieren die John-Coltrane-Erfahrung deutlich durchklingen. Er bewegte sich in schlangengleichen Bewegungen durch modales Gelände.

An der Wegkreuzung

Am Klavier entwickelte Harold Mabern die Blockakkordik eines McCoy Tyner behutsam weiter. Die Rhythmusgruppe? Entfesselte währenddessen Stürme. Morgan selbst benutzte die Kompositionen wie Module, um sich – jederzeit trittsicher – ins Offene hinauszubewegen. Die erstmals komplett veröffentlichte Live at the Lighthouse-Box (Blue Note) umfasst acht herrliche CDs. Sie enthält das Ausharren an einer Wegkreuzung: Das Reich der Freiheit muss irgendwo hinter einer der Wegbiegungen versteckt liegen.

Es heißt nicht Free Jazz oder "New Thing"; es meint auch nicht den geschmeidigen Übergang hinein in die "Fusion", mit ihren fingerflinken Übungen. Es ist etwas nicht ausformuliertes, gesellschaftliches Drittes. Dieses umfasst diskriminierungsfreie Verhältnisse; es meint eine Welt, in der man Jazzmusikern nicht die Zähne ausschlägt.

Etwa eineinhalb Jahre später, am 12. Februar 1972, wurde Lee Morgan 33-jährig im New Yorker Club Slugs von seiner Frau Helen aus Eifersucht niedergeschossen. Sie hatte geargwöhnt, er würde sie wegen einer anderen verlassen wollen. Morgan starb auch deswegen, weil der Ambulanzwagen erst nach einer geschlagenen Stunde am Tatort eintraf. Das Tor in die Zukunft fiel krachend ins Schloss. (Ronald Pohl, 19.10.2021)