Einen "perfekten Sturm" nennen es Finanzmarktexperten, wenn mehrere Faktoren zusammenkommen und so zu einer rapiden Preisveränderung führen. Das ist gerade in China zu beobachten. Das Land erlebt seine größte Energiekrise seit 20 Jahren. Fabriken müssen ihre Produktion drosseln, Bürger sollen weniger die Klimaanlagen benutzen und sind – wie in Guangzhou – angehalten, die Treppen anstatt des Liftes zu nehmen. Die europäische Handelskammer beklagt, dass Unternehmen teils eine Stunde vor Schichtbeginn oder am Abend zuvor mitgeteilt werde, dass der Strom abgestellt wird. In ganz China ist Strom knapp. Wie konnte es dazu kommen?

Preis für Kohle explodiert

Wie so oft hat auch diese Krise mehrere Ursachen, und was nun genau der Auslöser war, ist schwer zu identifizieren. Ein Problem aber ist klar: Chinas große Abhängigkeit vom Energieträger Kohle. Trotz zahlreicher Ankündigungen, in den kommenden Jahren grüner zu werden, bezieht China noch immer 70 Prozent seines Stroms aus dreckiger Kohleenergie. Auch wenn der Anteil relativ zu anderen Energiequellen etwas abnimmt, steigt er doch absolut weiter an.

Der Energiehunger in China ist enorm.
Foto: AFP/China Out

Der Preis für Kohle aber hat sich seit Anfang des Jahres versechsfacht. Und viele Kraftwerke haben aus Kostengründen ihren Betrieb eingestellt. Denn – auch das ein Grund für die Energiekrise – Chinas Energiemarkt ist staatlich kontrolliert: Während die Kohlepreise sich am Markt orientieren, ist der Preis für Strom von der Regierung festgesetzt. Kraftwerksbetreiber können die gestiegenen Kosten nicht einfach weitergeben und entscheiden sich lieber für einen Stopp.

Ob die am Montag enttäuschenden Wirtschaftsdaten mit der Energiekrise direkt zusammenhängen, ist noch fraglich. Da die Stromrationierung erst in den vergangenen Wochen gegriffen hat, dürften Produktionsengpässe sich wohl erst im vierten Quartal bemerkbar machen. Um 4,9 Prozent ist die chinesische Wirtschaftsleistung von Juli bis September gewachsen. Für chinesische Verhältnisse ist das eher enttäuschend – vor allem im Vergleich zu den beiden Vorquartalen. Von Jänner bis April lag das Wachstum noch bei 18,3 Prozent.

Sprunghaftes Wachstum

Eine Erklärung für die Energiekrise liegt eben auch in dem sprunghaften Wachstum im ersten Quartal: Weil die nationale wie globale Nachfrage so stieg, verteuerten sich Rohstoffpreise teilweise schlagartig. Gleichzeitig kam es zu Engpässen in den globalen Lieferketten, die durch Unfälle wie des Tankers, der im Suezkanal feststeckte, noch weiter verschlimmert wurden.

Anfang des Jahres blockierte Peking auch seine Häfen für australische Steinkohle. Gedacht war das als Strafaktion: Die Regierung in Canberra forderte eine eingehende Untersuchung der Vorgänge im Viruslabor von Wuhan. Der inoffizielle Boykott scheint vor allem China geschadet zu haben. Schließlich war da die Vorgabe Pekings an chinesische Unternehmen, in Zukunft energieeffizienter zu wirtschaften, die zu Disruptionen führte.

Die staatliche Kontrolle des Sektors dürfte die Verwerfungen derzeit eher befeuern als eindämmen.
Foto: AFP / China Out

All das zeigt vor allem: Die globalen Lieferketten sind in den vergangenen Jahren so komplex geworden, dass selbst kleine Störungen dramatische und unvorhergesehene Wirkungen an anderen Stellen des Globus haben können. Die Katze beißt sich so gesehen in den Schwanz – die abrupten Stromausfälle in China werden zu neuen Engpässen führen. Die Unruhe auf den Rohstoffmärkten setzt sich fort: Derzeit steigt der Stahlpreis, da viele Stahlwerke in China aufgrund der Energieknappheit ihre Produktion drosseln müssen. In der Provinz Jiangsu bei Schanghai etwa fielen ganze Werke für zwei Wochen aus.

Damoklesschwert

Entwarnung ist nicht in Sicht: In den kommenden Monaten wird die Nachfrage nach Energie weiter steigen. Dazu kommt die bevorstehende Insolvenz des Immobilienriesen Evergrande. Wie groß die Folgen für andere Unternehmen sein werden, wird sich zeigen.

Chinas Immobilienbranche ist enorm wichtig: Rund 30 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes hängen direkt oder indirekt am Bauboom. Zum ohnehin schon "perfekten Sturm" kommt also noch ein weiterer Faktor hinzu. (Philipp Mattheis aus Schanghai, 19.10.2021)