Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) und Polizeipräsident Gerhard Pürstl (links) bei einer Pressekonferenz am 6. November. An diesem Tag ging auch eine Anzeige gegen zwei Beamte ein.

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Selbst wenn man sich dazu entschieden hätte, den späteren Wiener Attentäter K. F. zu observieren – Personal dafür wäre ohnehin nicht vorhanden gewesen. Das antwortet ein hochrangiger Wiener Verfassungsschützer wenige Tage nach dem Terroranschlag auf die sinngemäße Frage, ob man denn nicht Maßnahmen ergreifen können hätte, als K. F. wenige Monate vor dem Anschlag durch merkwürdiges Verhalten auffiel.

Die Aussage entstammt einer E-Mail-Konversation, die in einem Ermittlungsakt der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) auftaucht. Das Bundesamt für Korruptionsbekämpfung (BAK) untersucht im Auftrag der Justiz und nach Anregung des BMI, ob zwei Beamte des Verfassungsschutzes – darunter der eingangs Zitierte – mehr hätten unternehmen können, um den Anschlag zu verhindern. Es geht um Amtsmissbrauch.

Die Aussage verdeutlicht, dass sich der Verdächtige keiner Schuld bewusst ist. Er wird auch in seiner Vernehmung bestreiten, dass er anders hätte handeln können. Dies zeigt aber noch mehr als das: nämlich wie Beamte des Wiener Verfassungsschutzes die Handlungsfähigkeit ihrer Behörde einschätzen. Denn im Ermittlungsakt finden sich viele ähnliche Aussagen von Kollegen, die sowohl in einem Disziplinarverfahren als auch später im Strafverfahren als Zeugen befragt wurden.

Angespannte Situation

Etwa als es um die offizielle Risikoeinstufung von K. F. geht, die erst neun Monate nach seiner Haftentlassung finalisiert wurde: "Dass eine Bewertung von K. F. zu machen war, war mir bekannt. Aber nur dann, wenn die Ressourcen auch gegeben waren. Ich habe immer wieder auf diese Problematik hingewiesen." Ein Kollege berichtet von einer "sehr angespannten Personalsituation" seit dem Frühjahr 2018, ein anderer erzählt, nach seinem Berufseinstieg weder Einschulung noch Unterweisung bekommen zu haben. Die Zeugenaussagen legen nahe, dass es sich beim Versagen bei der Prävention vor dem Anschlag in Wien um ein Multiorganversagen gehandelt haben dürfte.

Eigentlich wollte die WKStA gar nicht ermitteln. Auf Anweisung der Wiener Oberstaatsanwaltschaft tut sie es jetzt trotzdem. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Verhalten zweier Beamter bei der Bearbeitung von Informationen über ein internationales Treffen mehrerer Jihadisten – die als sogenanntes "Islamistentreffen" bekannt gewordene Zusammenkunft von deutschen, Schweizer und einheimischen Gefährdern im Sommer 2020. Und beim Auftauchen der Fotos vom versuchten Munitionskauf in der Slowakei kurze Zeit später.

Die Kernfrage lautet, ob einer der beiden Beamten – sie beide hatten mit dem Akt zu tun – diese verdächtigen Vorgänge an die Staatsanwaltschaft berichten hätte müssen. Denn dann hätte K. F. vielleicht gestoppt werden können, bevor er den Anschlag durchgeführt hat. Einer der Beamten regte allerdings wenige Wochen vor dem Anschlag beim Zweitbeschuldigten, der sein Vorgesetzter war, an, K. F. zumindest observieren zu lassen. Dieser lehnte das aber ab, weil er dafür keine rechtliche Grundlage sah.

Die Ermittlungen zogen von Beginn an viel Aufmerksamkeit auf sich: dies deshalb, weil die Anzeige aus dem Innenministerium selbst kam. Und weil das Ergebnis Einfluss auf den Prozess haben könnte, die eine Hinterbliebene eines Terroropfers gegen die Republik führt. Sie wirft den Behörden Versagen bei der Prävention vor.

Bewertung im Frühjahr

Brisant sind die Ermittlungen jedoch nicht primär wegen der potenziellen Verfehlungen der beiden einzelnen Beamten. Vielmehr offenbaren sie etwas anderes: nämlich, dass die Behörden noch mehr Chancen, K. F. frühzeitig aus dem Verkehr zu ziehen, verpasst haben dürften, als bisher öffentlich diskutiert wurde.

Das betrifft zum Beispiel eben die Risikobewertung von K. F., die erst kurz vor dem Anschlag abgeschlossen wurde. Verfassungsschützer verwenden für diese Einstufung ein System namens "Radar-ite", das vom deutschen Bundeskriminalamt in Zusammenarbeit mit der Universität Konstanz entwickelt wurde. Das soll es Behörden ermöglichen, Gefährder nach einem einheitlichen System zu bewerten. Je nach Risikostufe können dann bestimmte Handlungen gesetzt werden – umso höher die Bewertung, umso eher ist Intervention geboten.

Bisher wusste man durch den Bericht der Untersuchungskommission von der trägen Kommunikation zwischen BVT und LVT, was die Risikoeinstufung betrifft. Der versuchte Munitionskauf wurde erst so spät eingearbeitet, dass K. F. erst knapp vor dem Anschlag in die Stufe "hohes Risiko" vorrückte. Doch dabei handelte es sich offenbar nicht um eine Angelegenheit von Wochen, sondern vielmehr von Monaten, die schneller hätte sein können: Eine entsprechend hohe Risikobewertung sei schon im Frühjahr möglich gewesen, sagt eine BVT-Beamtin aus. Und das hätte direkte Konsequenzen nach sich gezogen, darunter eine Fallkonferenz, wo die "Festsetzung von Maßnahmen" besprochen werden muss.

Offenbar hatten die Verfassungsschützer zudem Hinweise darauf, dass K. F. ein zweites Mal nach Syrien ausreisen wollte. Ein entsprechender Tipp kam aus einer einschlägigen Moschee. Nähere Informationen dazu konnte man anscheinend nicht beschaffen, Konsequenzen zog der Verdacht jedenfalls keine nach sich.

Soko Pax als Hindernis

Und was die angespannten Ressourcen betrifft, dürfte nicht nur die geplante Aktion im Umfeld mutmaßlicher Muslimbrüder für eine Verschärfung der Situation gesorgt haben. Auch durch die "Soko Pax", die Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) nach den Angriffen rechtsextremer Türken auf Kurden und Linke in Wien-Favoriten eingesetzt hatte, wurden Beamte abgezogen.

Das BVT rechtfertigt die lange Zeitspanne von einem knappen Monat, die vergangen war, bevor man dem Wiener LVT die Information über den versuchten Munitionskauf weiterleitete, so: In diesem Zeitraum sei eine hohe Anzahl an Mitarbeitern der Soko zugewiesen gewesen. (Vanessa Gaigg, Jan Michael Marchart, Johannes Pucher, Gabriele Scherndl, Fabian Schmid, 19.10.2021)