Ein roter Saab Turbo, in dem ein Theatermacher und seine Chauffeurin ihre Einsamkeit umfahren: Ryusuke Hamaguchis Haruki-Murakami-Verfilmung Drive My Car.

Foto: Viennale

Mitten in der Nacht wird sie durch einen Knall aus dem Schlaf gerissen. Auch als Zuschauer schreckt man pochenden Herzens aus der Dunkelheit hoch, doch der Ursprung des Geräuschs lässt sich nicht bestimmen. Es kehrt auch nicht gleich wieder.

Später jedoch schon – ganz so, als ob es auf einen Überraschungsmoment gezielt hätte. Jessica (Tilda Swinton) will unbedingt herausfinden, ob "dieses Rumpeln aus dem Herzen der Erde" nur in ihrem Kopf ertönt oder ob es dafür doch eine äußere Quelle gibt.

NEON

Der mysteriöse, retardierende Moment bildet in Apichatpong Weerasethakuls Memoria den Beginn einer Suchbewegung. Die britische Botanikerin wird sich ohne Route, dafür mit wachem Auge durch Bogotá, später durch das ländliche Kolumbien bewegen; die Verwerfungen der Geschichte, Jessicas westlich gefärbter Blick auf das Land, die eigene Lebenszeit und jene viel weiter gefasste Dimension, in der sich das schon Dagewesene noch einmal anders zu erkennen gibt, werden in diesem hypnotischen Film verquickt.

Memoria ist aber auch ein Sinnbild für das Kino insgesamt. Denn Weerasethakuls Spiel mit Verzögerungen, mit den nicht immer gleich sichtbaren Verschränkungen von Gegenwart und Vergangenheit, radikalisiert nur etwas, was auch in anderen, den besten Filmen dieser Viennale widerhallt.

Das Kino hat seine eigene Zeitlichkeit, eine – fast muss man sagen: beglückende – Trägheit. Es erlaubt sich den Luxus, mit mehr Hingabe hinzuschauen, und es muss auch nicht auf alles sofort reagieren. Es bildet eine Art Gegenzeit, in der sich etwas in der Dauer entfaltet und Form annehmen kann – selbst etwas so Ungreifbares wie Trauer. So verblüfft Mathieu Amalric beispielsweise mit seiner bisher stärksten Regiearbeit Serre moi fort (Hold me Tight), in der Vicky Krieps als junge Frau zwischen Erinnerungsmomenten mit ihrer Familie und einer Gegenwart navigiert, in der immer mehr Lücken aufklaffen und sie sich in Trugbildern verliert.

The Match Factory

Zwischen Melancholie und Ausgelassenheit beschreiben Miguel Gomes und Maureen Fazandeiro dagegen, wie uns die Pandemie um vormals Selbstverständliches gebracht hat. The Tsugua Diaries ist direkt aus der Not heraus entstanden, während der Corona-Zeit etwas Sinnvolles zu tun. Der Lockdown in einem portugiesischen Landhaus, in das sich eine Frau und zwei Männer zurückziehen, wird hier für ein beinahe surreales Erzählexperiment genutzt. Aufgerollt wird die Geschichte nämlich vom Ende her, jede Szene arbeitet sich ein Stück weit ins Vergangene vor, wobei es zu unerwarteten Unterbrechungen kommt: etwa als ein Corona-Regelbruch das Filmteam in helle Aufregung versetzt.

Die verspäteten Filme

Da fügt es sich gut, dass die Viennale heuer reich an Filmen ist, die schon länger fertig waren, aber aufgrund der Pandemie erst in diesem Jahr in Berlin, Cannes oder Venedig Premiere hatten. Dass dort oft Frauen reüssierten, spiegelt sich nun auch in Wien wider. Zu den Highlights gehören beispielsweise Jane Campions Western The Power of the Dog, der raffiniert Männerbilder dekonstruiert, oder Joanna Hoggs fein gewobenes autobiografisches Diptychon The Souvenir. Oder Mia Hansen-Løves Bergman Island, der mit hintergründigem Witz davon erzählt, wie eine junge Autorin eine Männern huldigende Filmwelt betrachtet und dabei zu ihrer Stimme findet.

Cinematheque Trailers

Unbedingt austesten sollte man aber auch die Filme des Japaners Ryusuke Hamaguchi, der 2021 seinen endgültigen Durchbruch feierte. In gleich zwei Arbeiten, dem Episodenfilm Wheel of Fortune and Fantasy und der Haruki-Murakami-Verfilmung Drive My Car, demonstriert er sein Feingefühl in der Beschreibung menschlicher Annäherungen, in denen stets ein Schlupfloch bleibt: Niemand gibt sich ganz preis. In Drive My Car wird die Beziehung eines Theatermachers zu seiner Chauffeurin dann noch über den Probenprozess an einer Onkel Wanja-Inszenierung feingeschliffen – ein Diamant dieses Kinojahres. (Dominik Kamalzadeh, 16.10.2021)