In Deutschland ist der Atomausstieg längst beschlossen. Manche sagen: voreilig.

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Großbritannien will bis 2024 ein neues Atomkraftwerk genehmigen. Frankreich will Milliarden in die nukleare Energieindustrie stecken und so Innovation in der Branche antreiben. Überhaupt fordern neben Frankreich noch weitere Länder in Europa, dass Atomkraft als grüne Energie eingestuft werden möge – das würde deren Ausbau fördern. Die Atomenergie, die spätestens mit der Fukushima-Katastrophe 2011 und dem deutschen Atomausstieg als Auslaufbranche galt – Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte auch versprochen, den Anteil der Kernenergie im Energiemix zu reduzieren –, erlebt möglicherweise ein Comeback.

14 EU-Staaten setzen derzeit auf Atomkraft, zu deren aktiven Verfechtern gehören neben Frankreich auch Ungarn, die Slowakei, Tschechien, Finnland, Slowenien, Kroatien, Bulgarien, Rumänien und Polen. Dass selbst in Deutschland, wo der Atomausstieg einst von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung getragen wurde, immer mehr Menschen laut Umfragen ihre Skepsis gegenüber Atomstrom ablegen, hat einen einfachen Grund: den Klimawandel. Der jüngste Bericht des Weltklimarats (IPCC) hat gezeigt, dass die globalen Treibhausgasemissionen rasch und drastisch sinken müssen, will man die Erderwärmung auf weniger als zwei Grad drosseln. Die internationale Energieagentur rechnet, dass der weltweite CO2-Ausstoß pro Jahr um zwei Gigatonnen größer wäre, würde man bestehende Atomkraftwerke mit fossilen Energiequellen ersetzen.

Frage der Grundlast

Warum also nicht neben erneuerbaren Quellen auch auf Atomenergie setzen? Ein Problem mit dem Umstieg auf erneuerbare Energiequellen ist ja, dass etwa Sonnenenergie und Windenergie nicht grundlastfähig sind. Bläst kein Wind, wird auch keine Energie erzeugt. Atomkraftwerke haben dieses Problem nicht. Wie auch Kohlekraftwerke – von denen sich die Weltgemeinschaft verabschieden will – können sie rund um die Uhr laufen und für Energiesicherheit sorgen.

Trotzdem ist Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) gegen Atomenergie als Mittel im Kampf gegen den Klimawandel. Nicht nur deshalb, weil Österreich reich an Wasserkraft ist, einer grundlastfähigen erneuerbaren Energiequelle. "Atomkraft ist eine veraltete Technologie mit enormen Risiken", warnt sie mit Verweis auf Tschernobyl. Die Reaktorkatastrophe liegt inzwischen 35 Jahre zurück, in oberösterreichischen Schwammerln etwa schlägt sie sich immer noch in erhöhten Cäsium-Werten nieder. Außerdem, so Gewessler, habe kein einziges Land eine sichere Lösung für seine Atomendlager. Im Ministerium erwägt man sogar eine Klage, sollte die EU Atomenergie als grüne Energie einstufen. Auch etwa Spanien, Deutschland und Luxemburg lehnen Atomkraft strikt ab.

Unabhängig, aber teuer

Europas Atomstaaten betonten unlängst in einem Schreiben an die EU-Kommission, dass Atomkraft eine "leistbare, stabile und unabhängige Energiequelle" sei. Sie würde die Verbraucher vor Preisschwankungen schützen. Während Atomkraftwerke 26 Prozent des Stroms in der Europäischen Union produzieren, kommen 90 Prozent des benötigten Erdgases in der Union von ausländischen Herstellern.

Gewesslers zweites Argument gegen die Kernkraft äußert allerdings Zweifel an der Wirtschaftlichkeit von Atommeilern. Es sei langwierig und vergleichsweise teuer, neue AKWs zu errichten. Schon allein deshalb sei es besser, in erneuerbare Energie zu investieren. "Wir sehen in ganz Europa, dass sich bei in Bau befindlichen AKWs wie zum Beispiel Olkiluoto (Finnland, Anm) und Flamanville (Frankreich, Anm.) sowohl die Bauzeit als auch die Kosten zum Teil verdreifachen", sagt Gewessler: Man verbaue Geld, das man effizienter, sicherer und klimafreundlicher investieren könnte.

Innovation gefragt

Der World Nuclear Report weist außerdem darauf hin, dass Kernkraft nicht frei von Klimarisiken ist. Je höher etwa die Außentemperaturen, desto weniger effizient kann ein Atomkraftwerk demnach arbeiten. Dürren können die Kühlwasserversorgung knapp werden lassen. Man solle grundsätzlich lieber auf Erneuerbare als auf Kernkraft setzen, heißt es. Neue Reaktoren müssen jedenfalls gegen zunehmende Klimarisiken gewappnet sein, fordern die Autoren des Berichts.

Innovation ist also gefragt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass im Atomsektor Technologiesprünge gelingen, die sowohl Kosten als auch Risiken senken. China testet in Wuwei etwa einen Reaktor, der statt festen Brennstäben ein flüssiges Salz und statt Uran das weit häufigere Thorium verwendet. Außerdem stecken in Atommüll große Mengen an nicht genutzter Energie, zahlreiche Unternehmen suchen derzeit nach Lösungen, um sie zu nutzen. Im Süden Frankreichs gibt es ein Kernkraftprojekt, das keinen Abfall erzeugt – weil es auf Kernfusion setzt.

Die größte Hoffnung der Kernkraftbefürworter liegt in den sogenannten Small Modular Reactors. Das sind kleine, vorgefertigte Kraftwerke, die je nach Bedarf in Reihen aufgestellt oder auf Schiffen betrieben werden. Mit weniger spaltbarem Material sind sie auch sicherer als herkömmliche AKWs.

Plädoyer für Sachlichkeit

Egal wie man zur Kernkraft steht und welche Innovationen gelingen: Laut Weltklimarat sind die Klimaziele nicht ganz ohne Atomenergie zu erreichen. Peter Windischhofer, Gründer des Kreislaufwirtschaft-Start-ups Refurbed, wünscht sich deshalb auch in Österreich eine sachlichere Debatte über Kernkraft, wie er häufig auf Plattformen wie Linkedin betont. Der Ausbau von Erneuerbaren habe Priorität. Objektiv betrachtet sei Atomstrom aber die klimafreundlichste Option, Strom zu erzeugen, und sehr sicher. Die Risiken im Zusammenhang mit Kernenergie will Windischhofer nicht leugnen: "Das Risiko des Klimawandels ist jedoch wesentlich realer und größer, und wir müssen alle technischen Möglichkeiten nutzen, um die bevorstehende Klimakatastrophe zu verhindern."

Energieagentur empfiehlt Verhaltensänderung

Bei der Internationalen Energieagentur glaubt man nicht, dass die Netto-Null bei den Emissionen bis 2050 ohne grundlegende Verhaltensänderungen erreicht werden kann. Das gelte vor allem für den Transport und für das Wohnen, heißt es in einem aktuellen Bericht vor der Klimakonferenz in Glasgow (COP26). Es reiche nicht, wenn Konsumenten beim Einkauf auf grüne Technologie setzen, es müsse auch eine Veränderung beim Einsatz von Energie geben.

Die wichtigste Maßnahme sei das Aus für Privatautos mit Verbrennungsmotor in Städten, Carsharing und ein Tempolimit von 100 km/h auf Autobahnen. Flugreisen müssten zumindest auf dem Niveau von 2019 eingefroren, überall wo es möglich ist vom Flugzeug auf die Bahn umgestiegen werden. Gebäude sollten im Sommer nicht unter 24 Grad gekühlt werden. Im Winter sollten die Heizung nur auf 19 bis 20 Grad aufgedreht werden. Das alleine würde die Emissionen um 200 Millionen Tonnen reduzieren. Wo es möglich ist, rät die Agentur zu Homeoffice an drei Tagen pro Woche. Und sie fügt an: Freiwilligkeit allein werde nicht reichen. (Aloysius Widmann, 19.10.2021)