Und dann sahen wir Bella. Wobei: Eigentlich sahen wir ja zuerst nicht sie, sondern nur ihren Hut. Und wenn sie den nicht aufgehabt hätte, hätten wir sie sicher nicht angesprochen: Menschen in Tiefschwarz auf dem Zentralfriedhof sind in der Regel tatsächlich Trauernde. Und haben jedes Anrecht, nicht von der Seite angelabert zu werden.

Allerdings haben sie selten Hexenhüte auf.

Also sprachen wir die junge Frau an: "Ich warte auf ein paar Freundinnen. Wir wollen hier gemeinsam spazieren gehen: Ja, alle kostümiert. Und danach gibt es Kaffee und Kuchen in der Friedhofskonditorei. Das Wetter ist dafür doch perfekt – und der Zentralfriedhof jetzt am stimmungsvollsten."

Tom Rottenberg

Die junge Frau hatte damit natürlich recht. Trotzdem war ich ein wenig irritiert. Nicht, weil ich Bella widersprechen möchte oder könnte, was die Schönheit und Magie des Friedhofes gerade im Herbst angeht. Auch nicht, was die lebensbejahende Nutzung dieses architektonisch wie gärtnerisch spannenden und schönen Areals angeht: Dass hier Touristengruppen unterwegs sind, Fiaker fahren und japanisch-österreichische Unternehmer asiatischen Klassik-Fans sogar Gräber "neben den berühmtesten Komponisten" anbieten (von denen allerdings noch kein einziges belegt ist), weiß ich.

Und wer je an Falcos Todes- oder Geburtstag am mutmaßlich geschmacklosesten Promi-Grabstein des Planeten vorbeikam, weiß … und so weiter.

Tom Rottenberg

Dass hier nicht nur mit Duldung, sondern der proaktiven Unterstützung der Friedhofsverwaltung gelaufen wird, auch. Ich habe darüber sogar schon geschrieben, bevor hier Laufrouten "amtlich" ausgeschildert und Laufevents organisiert waren.

Aus dieser Rolle heraus kenne ich das erstaunte Luftholen vieler ZeitgenossInnen, mit denen ich, als Laufguide, schon hier war.

Ich kenne und goutiere auch die Position der Friedhofsverwaltung, den Friedhof als Lebensraum definieren zu wollen. Weil der Tod Teil des Lebens ist. Und der Mann, der am Sonntag neben mir stand, als ich diesen Jeff-Koons-meets-Gelitin-meets-Manfred-Deix-Grabstein (Aufschrift: "Unbekannter Künstler") fotografierte, recht hat: "Wer da liegt, den stört nix mehr."

Tom Rottenberg

Dennoch war die Erkenntnis, dass das auch in der Hexengruppe geht, spannend. Nicht weil ich das "unmöglich" finde. Sondern weil es mir – wieder einmal – aufzeigte, wie sehr auch ich in meinen gewohnten Bildern verhaftet bin. Wie sehr meine eigenen Gewohnheiten mir sagen, was "normal" und was "anders" ist:

Vermutlich sind Läuferinnen auf einem Friedhof für viele Menschen irritierender und auffälliger als eine Gruppe junger Frauen in Schwarz – egal, wie seltsam ihre Hüte sind.

Aber solange da – egal ob von Hexen oder Läuferinnen – die Basics von Takt und Höflichkeit anderen gegenüber eingehalten werden, ist es voll okay.

Weil nicht nur das Leben, sondern auch der Herbst wunderschön ist.

Tom Rottenberg

Nicht nur auf dem Zentralfriedhof. Der, genauer die Kurkonditorei mit ihren Megakalorienbomben, war am Sonntag nämlich nur der letzte Punkt eines superschönen und superentspannten Ein-Herbstwochenende-draußen-Spielplans. Einfach weil bei mir, bei uns, gerade nix akut auf dem Wettkampfplan steht. Viel war das heuer eh nicht – und ob ich eventuell noch irgendwo einen Staffelteil eines Ultras laufe oder im Advent noch ein Marathon wartet, ist nicht so wichtig: "Off-Season" ist die Zeit, in der PatientInnen wie ich zwar Trainingspläne haben, Kopf und Beine aber dennoch eher auf "Genuss" als "Ziel" ausgerichtet sind.

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Nicht nur laufend, sondern auch auf dem Rad: Der Bisamberg etwa passt meist genau wegen irgendeines Nano-Details gerade nicht in meine Rad-Trainingspläne: zu nah, zu niedrig, zu was auch immer.

Aber hier oben ist es trotzdem hammerschön. Ganz besonders im Herbst, wenn das Laub schon am Boden liegt, die Sonne aber doch noch fast ein bisserl sommerlich durch die Baumkronen blinzelt: Auf dem Weg quer durch die Stadt und über die Insel war ich am Samstagvormittag froh über Bein- und Ärmlinge gewesen, hier aber kam ich dann auch kurz-kurz ordentlich ins Schwitzen.

Tom Rottenberg

Nicht nur wegen der paar kurzen, aber doch knackigen Steigungen, die dieser von der Stadt aus so sanft-fad wirkende Hügel hat, sondern vor allem wegen des Kopfsteinpflasters: Rauf ist das mit ein bisserl Kondition genau gar kein Problem.

Aber runter können die Tobel einiges – zumindest auf dem ungefederten Gravelbike: Mit einem "Fully", also auf dem sofagefederten (E-)Mountainbike mit breiten, vielleicht nur halb aufgepumpten Reifen, würde ich die Rumpelei vermutlich nicht mal spüren.

(Dass ich den Garmin Edge 830 und den Wahoo Elemnt Bolt parallel laufen lasse, hat einen Grund. Dazu aber ein andermal.)

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Nur ist der Hupfer über den Bisamhügel für anspruchsvolle Moutainbiker wohl keine Herausforderung, die länger als einen Trail hält. Ich traf eine MTB-Kindergruppe und ein paar Senioren auf dem E-Bike – aber dass auch Nora Turner und Martin Granadia, meine beiden Haupt-(Komoot-)Routen-Einflüsterer im Wiener Umland, hier einen idealen Spielplatz fürs Graveln sehen, ist wohl kein Zufall: Die Anreise auf dem Asphalt wäre auf dem Mountainbike schlicht mühsam. Die Forst- und Feldwege mit dem Straßenrad das Gegenteil eines Vergnügens.

Bleibt als Kompromiss die eierlegende Wollmilchsau – das Gravelbike. Auch weil mich der Rückweg in die Stadt dann den Marchfeldkanal entlangführte: Schotterschotterschotter. In der Off-Season spielt Tempo keine Rolle.

Tom Rottenberg

Dass das auch am anderen Ende der Stadt gilt, erlebten wir am Sonntag laufend: Der Weg zum Zentralfriedhof führte uns zunächst den Liesingbach entlang. Der Weg dort ist zwar großteils, aber eben nicht durchgehend asphaltiert.

Beim Laufen macht das praktisch keinen Unterschied. Auf dem Rad dagegen sehr wohl. Ich bin diese Passagen auch schon mit dem Zeitfahrrad gefahren. Klar geht das, aber Spaß macht das keinen. Schon gar nicht, wenn der Blick nach rechts schwenkt – über die Feldwege des Laaerberges: ein Dorado für alle, die gern draußen unterwegs sind.

Tom Rottenberg

Natürlich kann man das Gerenne über die – jetzt noch dazu meist abgeerntet-stoppeligen – Felder auch fad finden. Nur kenne ich kaum jemanden, der gerne draußen ist, der oder die das so sieht.

Ganz im Gegenteil. Diese Region ist eine der letzten Zonen der Stadt, in der die meisten Wienerinnen und Wiener tatsächlich noch nie waren – immer noch ein Geheimtipp. Auch wenn Oberlaaer "Locals" das anders sehen: Die beobachten seit Jahren, wie die Stadt langsam über den Hügel auf sie zu metastasiert. Ob das gut ist (immerhin fährt jetzt die U-Bahn hierher) oder schlecht, weil das Dorf verschluckt wird? Ansichtssache.

Tom Rottenberg

Ich bin hier, ein bisserl weiter westlich, auf dem Favoritner "Wienerfeld", aufgewachsen. Damals war hier "the middle of nowhere". Abgesehen davon, dass das der Rad- und Moped-Schleichweg zu einer Schulliebschaft beim Schloss Neugebäude war, gab es exakt keinen Grund hierherzukommen. Die Bahntrasse, der Friedhof, der Hügel und seine rumpeligen Feldwege hatten nichts Reizvolles oder gar Malerisches – sie waren einfach nur mühsam: Hier sagten einander Fuchs und Häsin gute Nacht – wenn sie nicht längst anderswohin gezogen waren.

Tom Rottenberg

Heute ist das anders. Grundlegend anders. Weil der Weg das Ziel ist – und das nicht nur für mich: Ob es in den 1970er-Jahren Stadtwanderwege gab? Keine Ahnung. Ich weiß aber, dass ich hier auch vor Corona selten jemandem über den Weg lief ("gegravelt" bin ich da ja noch nicht) – und dass manche, wenn nicht die meisten Leute, die man hier traf, entweder Bauern auf dem Weg zu ihren Feldern oder Weingärten oder seltsame Käuze waren. Höflich formuliert.

Tom Rottenberg

Denn das Eck zwischen Böhmischem Prater, Kurpark Oberlaa und Kledering war auch ein Rückzugsort. Das ist es zum Teil noch: Hinter ein paar dichten Hecken verstecken sich noch immer stacheldrahtbewehrte und von Videoaufzeichnungs- und Besitzstörungsklagswarnungen gezierte übermannshohe Zäune. Sie beschützen Häuser und Höfe, deren "Anrainer" in meiner Jugend die Wege ringsum für ihr Privateigentum hielten – und darüber nicht diskutierten: Die Light-Version von "Sons of Anarchy" war für mich als Teenager heftig – auch wenn das wohl kaum Substanz hatte.

Heute? Ein oder zwei alte Redneck-Imitatoren könnte es hier noch geben. Aber: So what?

Es gibt Wichtigeres zu erleben. Und vor allem: Schöneres.

Tom Rottenberg

Mitunter eben auch Skurrileres. Das gilt nicht nur für Hexen, die sich an einem traumhaften Herbstsonntag vor dem Friedhof verabreden, um nach einem launigen Foto-Spaziergang durch einen der schönsten Parks der Stadt zu tun, was wir und hunderte andere an diesem Tag auch taten: bei Kaffee und Kuchen, Kakao und Torte auf der Terrasse einer Konditorei die letzten Sonnenstrahlen zu genießen.

Uns die Mäuler über alle anderen zu zerreißen.

Und uns zu 150 Prozent sicher zu sein, dass wir selbst vollkommen normal sind – aber alle anderen ziemliche Freaks.

(Tom Rottenberg, 19.10.2021)

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