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Nicht nur wie hier in Polen, auch in Österreich wird das Grenzregime zunehmend schärfer.

Foto: AP/Czarek Sokolowski

Die Zahl der Asylanträge in Österreich steigt wieder stark an, so wurden im August 4.758 Anträge gestellt, im August des Vorjahrs waren es noch 1.477. In Wien will man nun nur mehr vulnerable Personen unterbringen, in Niederösterreich plant der zuständige Landesrat gar einen Aufnahmestopp. Am Dienstag wurden an der Grenze zu Ungarn die Leichen zweier Männer in einem Lastwagen gefunden, die Behörden ermitteln.

Gleichzeitig eskaliert die Situation an der EU-Außengrenze, wie zuletzt zwischen Belarus und Polen. Besonders die sogenannten Pushbacks stehen in der Kritik. Davon spricht man, wenn Flüchtlinge über eine Grenze zurückgedrängt werden und ihnen das Recht verwehrt wird, einen Asylantrag zu stellen. Derartige Pushbacks wurden auch an der österreichischen Grenze dokumentiert. Menschenrechtsexperte Ralph Janik ordnet die jüngsten Entwicklungen im STANDARD-Gespräch ein.

STANDARD: Bewegen wir uns wieder in Richtung einer Situation wie 2015, was die Asylantragszahlen betrifft?

Janik: Nein, das glaube ich nicht. Der Vergleich mit dem Jahr 2015, das ja mittlerweile zum Schreckensszenario gedeutet wurde, wird zwar ständig bemüht, aber wir sind einfach nicht an diesem Punkt. Man tut politisch alles, um genau das zu verhindern – sei es durch den Türkei-Deal, sei es, dass die EU sehr viel bereiter ist, die Außengrenze wirklich zu sperren.

Der Jurist und Politikwissenschafter Ralph Janik stellt die Frage nach den "moralischen Kosten" des Handelns der EU-Staaten an den Außengrenzen.
Foto: Elisabeth Pfneisl

STANDARD: Besonders Wien übererfüllt seine Unterbringungsquote. Warum kommen so viele Personen in die Bundeshauptstadt?

Janik: Das ist einerseits der Anziehungskraft einer Großstadt geschuldet, und andererseits spielt da auch die unterschiedliche Sozialgesetzgebung rein. Wien ist da unter Anführungszeichen großzügiger, weil man Angst hat, dass die Leute eher in die Kriminalität abgleiten würden, wenn man ihnen etwas wegnimmt. Ich habe das Gefühl, manch andere Bundesländer denken sich wiederum: Wenn wir schärfer werden, gehen die Leute eher nach Wien.

STANDARD: Kann Österreich die stark steigende Anzahl von ankommenden Flüchtlingen aktuell versorgen?

Janik: Ja. Die Frage ist, welche Standards man aufrechterhalten will. Wenn es sein muss, kann man recht schnell Ressourcen und Räumlichkeiten auftreiben.

STANDARD: Welche Flüchtlinge kommen denn aktuell nach Österreich?

Janik: Ganz allgemein sind das Menschen, die schon länger auf dem Weg sind. Die wenigsten kommen direkt aus Afghanistan nach Europa. Es gibt sicher Leute, die jetzt eher noch einmal die Möglichkeit ergreifen nach der Machtergreifung der Taliban, weil man vielleicht bessere Chancen hat, Asyl zu bekommen. Auch 2015 sind sehr viele Leute aus dem Iran gekommen, weil sie gesehen haben, dass sich jetzt vielleicht eine Möglichkeit bietet. Genauso dürften das jetzt Menschen sein, die bereits jahrelang in anderen Ländern wie der Türkei waren. Der Aufenthalt in einem sicheren Staat ändert rechtlich aber nichts an der Eigenschaft als Flüchtling – die Definition stellt nur darauf ab, ob man sich außerhalb seines Heimatlands befindet.

STANDARD: Kann es sich im konkreten Asylverfahren auf die Chance einer positiven Entscheidung negativ auswirken, wenn jemand in einem anderen, dritten Land offensichtlich bereits längere Zeit verbracht hat und dort in Sicherheit war?

Janik: Nein, das ist davon unabhängig.

STANDARD: An der Grenze zwischen Belarus und Polen spitzt sich die Situation zu. Belarus wird vorgeworfen, Flüchtlinge gezielt zur Grenze zu bringen, und Amnesty International hat Pushbacks von Polen dokumentiert. Wer hat diese Situation zu verantworten?

Janik: Da hat sich eine neue Fluchtroute etabliert. Belarus sagt: "Die Leute wollen eh nicht bei uns sein", und lässt die Leute durch oder bringt sie sogar an die Grenze. Eine andere Frage ist, wie hoch die moralischen Kosten für EU-Staaten sind: Die EU hat ein Recht auf Asyl in der Grundrechtecharta, jetzt gibt es aber Leute an den EU-Außengrenzen, die nicht reingelassen werden. Ich habe das Gefühl, wir sind seit ein paar Jahren an dem Punkt, dass man sagt: "Wir wollen eh nicht, dass die Leute kommen, also kann man sie zur Not auch gewaltsam abhalten, selbst wenn wir damit unser eigenes Recht brechen." Auch in Österreich gab es Berichte von Pushbacks in den Medien, aber den großen politischen Aufschrei habe ich nicht gehört.

STANDARD: Wie schätzen Sie die Lage an der österreichischen Grenze ein – auch rechtlich?

Janik: Es gibt anscheinend Pushbacks, die von Österreich ausgehen und dann über Slowenien und Kroatien bis aus der EU heraus führen. Das geht aus zwei Gründen nicht. Erstens ist ein in Österreich gestellter Asylantrag in Österreich zu behandeln, und sei es nur, um zu klären, wer für den Antrag zuständig ist. Und zweitens wird damit das Abschiebeverbot verletzt. Man muss prüfen, ob jemand, selbst wenn er kein Flüchtling ist, nicht in Verletzung von Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention im Zielland unmenschlich oder erniedrigend behandelt oder gar gefoltert werden könnte. Selbst wenn Österreich nicht direkt jemanden aus der EU schafft, ist es für solche sogenannten Kettenabschiebungen mitverantwortlich. Das geht sowohl europarechtlich als auch menschenrechtlich nicht, scheint aber auch hier einmal mehr niemanden zu kratzen. (Levin Wotke, 21.10.2021)