Schwedens Polizei musste in den vergangenen Jahren allzu oft in Sachen Bandenkriminalität ermitteln.

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Das Team von "Sluta Skjut!" in Malmö.

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Die Stimmung im Malmöer Stadtteil Rosengård ist so gut wie lange nicht, als Polizist Stefan Wredenmark gemeinsam mit dem STANDARD bei Nieselregen durch die graue Gemeindebausiedlung streift. Wredenmark – kahlrasierter Kopf, sonnengegerbtes Gesicht – ist seit einem Vierteljahrhundert auf den Straßen des Problembezirks unterwegs.

Fußballfans kennen Rosengård als Heimat von Weltstar Zlatan Ibrahimovic, doch in den vergangenen Jahren galt die mediale Aufmerksamkeit vor allem der dort überbordenden Bandenkriminalität. 65 Schießereien gab es in Malmö im Jahr 2017 – die meisten in den Stadtteilen, wo, wie in Rosengård, viele sozial schlechtgestellte Zuwanderer unter schwierigen Bedingungen zusammenleben.

"Wir haben ein hohes Maß an Segregation", erzählt Wredenmark. "Viele Jugendliche, die in diesen kriminellen Sumpf gesaugt werden, haben eine kaputte Kindheit. Sie fühlen sich ausgegrenzt, sind nicht gut durch die Schule gekommen – und dann beginnt es mit Drogen und Waffen."

Imageproblem für Malmö

Während junge, urbane Europäerinnen und Europäer Malmö als weltoffene Stadt mit großem Kulturangebot und starker Zivilgesellschaft schätzen, können sich viele Schwedinnen und Schweden, vor allem im fernen Stockholm und nördlich davon, nicht einmal einen Besuch in dieser Stadt im Süden des Landes vorstellen. Die Schlagzeilen der Boulevardblätter der Hauptstadt legen nahe, dass man sich in Malmö davor fürchten muss, auf offener Straße erschossen zu werden.

Lange Zeit hat sich die Bevölkerung Malmös aber trotz Gangkriminalität sicher gefühlt. Kriminelle, die auf Kriminelle schießen, haben unbescholtene, unbeteiligte Personen nicht weiter betroffen. Doch spätestens 2017 – als ein 16-Jähriger, vermutlich aus einer Verwechslung heraus, erschossen wurde – kippte die Stimmung: Die Stadtverwaltung musste handeln.

Das daraus entstandene Projekt von Polizei, Justiz und Gemeinde wurde "Sluta Skjut!" – Schwedisch für "Hört auf zu schießen!" – getauft. Stefan Wredenmark leitet es gemeinsam mit Jenny Lundberg von der Strafvollzugsbehörde und Anna Kosztovics vom städtischen Sozialamt. "Voriges Jahr hatten wir nur noch 20 Schießereien, 2021 sind es bisher erst dreizehn. ‚Nur‘ eine Person ist gestorben", berichtet Kosztovics stolz.

Neue Ansätze

Was macht den Erfolg aus? "Sluta Skjut!" basiert auf dem aus den USA bekannten Präventionskonzept der "Group Violence Intervention": Es wird nicht nur auf Repressalien gesetzt, sondern vor allem auf das Setzen zwischenmenschlicher Akzente. Am Anfang stand die Kartierung der kriminellen, gewaltbereiten Szene Malmös. "Wer gehört zu welcher Gang? Wer sind die Angehörigen? In welchem Gebiet treiben sie ihr Unwesen? Und wir versuchen, die Anführer zu identifizieren", erzählt Wredenmark, der für diese Arbeit von Kollegen der Streifenpolizei und vom schwedischen Inlandsnachrichtendienst unterstützt wurde.

Aus diesem "Pool" an Kriminellen und ihrem Umfeld werden Jugendliche ausgewählt, bei denen man ein Potenzial für tödliche Gewalt zu erkennen meint. Die Vorgangsweise ist ungewöhnlich: Zwei Polizistinnen und ein Sozialarbeiter vom Aussteigerprogramm läuten spontan an der Haustüre der jungen Kriminellen an und bitten zum Gespräch. "In 99 Prozent der Fälle werden wir freundlich aufgenommen, weil die allermeisten von ihnen bereits über einen Ausstieg aus dem kriminellen Milieu nachgedacht haben", sagt Lundberg, die das Projekt vonseiten der Behörde für offenen Strafvollzug mitverantwortet.

Deutliche Worte

Die Gespräche sind respektvoll, finden auf Augenhöhe statt, die Botschaft an die jungen Kriminellen ist trotzdem deutlich und ernst. "Wir wollen nicht, dass du stirbst, und wir wollen nicht, dass du jemanden umbringst. Wenn du deinen kriminellen Lebensstil verlassen willst, dann helfen wir dir dabei."

Aber es werde auch klar gemacht, ergänzt Wredenmark: "Wir schauen euch auf die Finger. Wenn du oder jemand anderer aus eurer Gruppe eine ernste Straftat begeht, dann machen wir nicht nur dem Verdächtigen, sondern der ganzen Gruppe das Leben schwer."

In einem nächsten Schritt wird zu einem "Call-in" eingeladen – einem Gruppengespräch mit Polizei und Staatsanwaltschaft sowie mit Vertreterinnen und Vertretern von Gemeinde, Sozialamt und Zivilgesellschaft. Wobei: "Einladen" ist nicht das richtige Wort, denn der Besuch ist für die allermeisten Jugendlichen im Rahmen einer gegen sie verhängten Bewährungsstrafe verpflichtend. Erscheinen sie nicht, droht als letzte Konsequenz doch noch das Gefängnis.

Mütter berichten

In den Call-ins sind drei Vortragende zentral: ein ehemaliger Schwerkrimineller als "Stimme der Reue", ein Imam als "Stimme der Hoffnung" und eine Mutter, die ihren Sohn verloren hat, als "Stimme der Trauer".

Ihr Sohn sei nicht bei einer Schießerei gestorben, er liege aber auf dem Friedhof neben vielen Opfern von Bandenkriminalität, erzählt etwa eine Mutter. "Sie erzählt auf sehr lebendige Weise und sagt: ‚Denkt an die Herzen eurer Mütter, ich höre sie am Abend weinen, wenn sie zum Friedhof gehen, tut das euren Müttern nicht an‘", schildert Projektkoordinatorin Kosztovics eine solche Sitzung. "Die Burschen, die das hören, berührt das tief. Es sind nicht wenige, die ich gesehen habe, die in Tränen ausbrachen."

Wie wirksam die emotionale Komponente in der Verbrechensbekämpfung ist, das habe man sich vorab nicht vorstellen können. "Das Stichwort ist: Schamgefühl. Bekommen die Eltern, die Freundin, die Schwiegereltern erst einmal mit, in welchen Schwierigkeiten die Burschen stecken, dann gibt es große Fortschritte durch internen Druck."

Neuer Name, neues Leben

Mit 200 Personen hat "Sluta Skjut!" bisher gearbeitet – 30 von ihnen sind ausgestiegen und leben mit neuer Identität in anderen Teilen des Landes. Die Gewalt in Malmö hat spürbar nachgelassen, die Anzahl an Schießereien hat sich mehr als halbiert. Welchen Anteil das Projekt an diesem Erfolg hat, ist laut Studie der Universität Malmö pandemiebedingt noch unklar, trotzdem wird eine Fortsetzung empfohlen. Unterdessen steigt die Gewaltquote in anderen Teilen Schwedens.

So stürmten im vergangenen Sommer zwei Bewaffnete in ein Friseurgeschäft in Göteborg und streckten einen Gangrivalen mit mehreren Schüssen nieder. Ende September gab es 16 Verletzte bei einer Explosion eines Sprengkörpers in einem Göteborger Wohnhaus, die Hintergründe sind unbekannt. Wegen solcher Vorfälle soll "Sluta Skjut!" bald auch in Stockholm und Göteborg ausgerollt werden.

Unterdessen arbeiten in Malmö Wredenmark, Lundberg und Kosztovics am nächsten Projekt: Bei "Sluta Slår!" (Stoppt die Schläge) geht es um häusliche Gewalt. (REPORTAGE: Nikolai Atefie aus Malmö, 21.10.2021)