Der Streit zwischen Polen und den EU-Institutionen ist eskaliert und lässt die Erweiterungsdebatte auf dem Westbalkan bald wieder in Vergessenheit geraten, befürchtet der Politologe Vedran Džihic im Gastkommentar. Er warnt, die EU-Erweiterung dürfe nicht zu einem technisch-pragmatischen Prozess verkommen.

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Polens Premier Mateusz Morawiecki ging in Straßburg auf Konfrontationskurs.
Foto: Reuters / Ronald Wittek

Als 1989/1990 die neue Ära der Demokratie, der Menschenrechte und der Marktwirtschaft anbrach, schien der Traum von der demokratischen Wiedervereinigung des Kontinents zum Greifen nahe. Mit Begeisterung sprangen die meisten osteuropäischen Staaten auf den funkelnden Zug der Demokratie und der Marktwirtschaft nach westlichem Vorbild auf. Die EU-Mitgliedschaft wurde zur Verheißung für eine bessere Zukunft. Längst ist aber sowohl für die damaligen Passagiere im Osten als auch für die Union das große Erwachen eingetreten.

"Das Warten der Balkanstaaten auf den EU-Zug ist zermürbend geworden."

Die vielen Krisen der letzten zwei Jahrzehnte haben tiefe Spuren hinterlassen. Die globalisierte Marktwirtschaft stellt man heute nicht mehr infrage, die Demokratie in Teilen Europas aber sehr wohl. Für Viktor Orbán in Ungarn, Jarosław Kaczyński in Polen oder Janez Janša in Slowenien innerhalb der EU sowie Alexander Vučić in Serbien oder Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei, allesamt beinharte Machtpragmatiker, sind Rechtsstaatlichkeit und liberale Demokratie längst zu einem lästigen Anhängsel verkommen.

Das neue Zeitalter nach 1989 brachte auch den blutigen Krieg in Ex-Jugoslawien mit sich und mit Srebrenica den ersten Völkermord auf dem europäischen Boden seit dem Holocaust. Auch in den Staaten Ex-Jugoslawiens war das Rezept zum Abschied von "gefährlichen und extremen Zeiten" (Eric Hobsbawm) das Eröffnen der EU-Integrationsperspektive. Um diese sieht es heute schlecht aus. Das Warten der Balkanstaaten auf den EU-Zug ist zermürbend geworden. Politische Krisen, alte Animositäten und Nationalismen sind wieder an der Tagesordnung.

Neue Player

Die Sorge vor einem stärkeren Einfluss Russlands, der Türkei oder Chinas in der Region, der an allen Ecken längst spürbar ist, scheint derzeit eine zentrale Antriebsfeder für die EU zu sein, die Beitrittsperspektive immer wieder zumindest rhetorisch zu bekräftigen. Überhaupt wird die Notwendigkeit der Beitrittsperspektive und des Engagements auf dem Westbalkan seit einigen Jahren nur noch äußerst pragmatisch begründet – wenn wir als Union uns auf dem Balkan nicht engagieren, sind andere geopolitische Player da, breche der Damm gegen Flucht und Migration zusammen, drohten neue Konflikte, und dann werde Unsicherheit nach Kerneuropa transportiert, lauten einige der gängigen Argumente.

Unlängst beim Westbalkangipfel in Slowenien hat man sich durchgerungen, wie schon vor 18 Jahren in Thessaloniki, die EU-Perspektive zu versprechen. Das kommt einem wie ein Verlobungsschwur vor, der beim ersten Mal ziemlich euphorisch geleistet wird, um nach 18 Jahren ohne große Gefühle erneuert zu werden.

Deutliche Worte

Just kurz vor dem eskalierenden Streit zwischen Polen und den EU-Institutionen nach dem jüngsten Urteil des polnischen Verfassungsgerichtshofs sind Gerüchte über Missstände in der zuständigen Erweiterungsabteilung der EU-Kommission publik geworden. Der ungarische Erweiterungskommissar, ehemals enger Mitarbeiter von Orbán, Olivér Várhelyi, soll den Lieblingspartner des ungarischen Premierministers in der Region, Serbien, bevorzugt behandelt und gerade bei Verletzungen der rechtsstaatlichen Prinzipien ein bis zwei Augen zugedrückt haben.

Einen besonderen Pragmatismus hat zuletzt auch Ursula von der Leyen bei ihrer Balkantour an den Tag gelegt. Die Kommissionspräsidentin lobte den "lieben Alexander", den mit strammer autoritärer Hand regierenden Präsidenten Vučić, für "Reformen und Erfolge" Serbiens und seine Rechtsstaatlichkeitsbemühungen. Im Streit mit Polen fand sie aber dann doch deutliche Worte: "Wir können und wir werden es nicht zulassen, dass unsere gemeinsamen Werte aufs Spiel gesetzt werden." Hat sie, hat die EU endlich das Spiel der Autokraten durchschaut? Hat man erkannt, dass man mit lauwarmen Kompromissen bei der Demokratieaushöhlung sehenden Auges das Fundament der EU untergräbt?

Showdown mit Polen

Der Showdown mit Polen wird anhalten, die Erweiterungsdebatte hingegen bald wieder an den Rand europäischer Debatten verdrängt werden. Beide Debatten verweisen aber eindeutig auf das womöglich größte Dilemma in der Geschichte der EU: Die EU tut sich äußerst schwer mit richtigen und wirksamen Antworten auf die neuen europäischen Autokraten, die das Spiel mit der Demokratie bestens beherrschen: Die Demokratiefassade wird mit allen Mitteln gepflegt und geschmückt, Demokratiemimikry blüht und gedeiht. Hinter der Fassade aber treibt man die Zerstörung der Demokratie voran. Wenn die EU hier nur bei Appellen an die Fairness bleibt oder weiter beschwichtigt, wird der Abbau der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in einigen EU-Mitgliedsstaaten und bei den Erweiterungskandidaten fortgesetzt werden. Das wäre der finale Verrat an der geschichtlichen Mission der EU.

Was ist zu tun? Auf dem Westbalkan darf man nicht zulassen, dass die EU-Erweiterung völlig zu einem technisch-pragmatischen Prozess verkommt, der die vielzitierten "europäischen Werte" aus dem Artikel 2 nur noch symbolisch vor sich herträgt, während in der Substanz der Westbalkan zu einer "Containment-Region" wird – ein Bollwerk gegen die Migration oder den Einfluss Chinas oder Russlands. So wird man einen wichtigen Teil des Kampfes für Demokratie in ganz Europa verlieren. Im Inneren der EU und beim polnischen Fall gilt es hingegen, alle Möglichkeiten – vom Vertragsverletzungsverfahren bis zur Anwendung des Rechtsstaatsmechanismus – auszuschöpfen.

Solidarische Allianzen

Noch wichtiger ist es sowohl im Osten als auch im Südosten Europas, nicht zu vergessen, dass Orbán, Kaczyński, Janša und Vučić eben nicht das sind, was sie ständig in ihrer populistisch-moralisierenden Rhetorik behaupten – die alleinigen Vertreter des Volkes. Es gibt ein anderes Polen, Ungarn, Serbien und Slowenien. So viele Bürgerinnen und Bürger in all diesen Staaten kämpfen tagtäglich für Demokratie, tragen die Fahne der Rechtsstaatlichkeit und der Emanzipation vor sich her, setzten sich zur Wehr gegen die populistisch-autoritäre Wende. Neue solidarische Allianzen mit all diesen Bewegungen in ganz Europa zu schmieden wäre der beste Weg zur Revitalisierung Europas. (Vedran Džihić, 21.10.2021)