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Bolsonaro unter Druck.

Foto: REUTERS/Ueslei Marcelino

Die live übertragenen Sitzungen des parlamentarischen Untersuchungsausschusses haben in Brasilien nicht selten die Einschaltquoten der legendären Telenovelas geschlagen. Vor Straßencafés und Fastfood-Restaurants mit Fernseher drängelten sich die Menschen, um zu verfolgen, wie ignorant sich Präsident Jair Bolsonaro dem Rat von Experten widersetzte und Brasilien in eine nationale Tragödie manövrierte. Mehr als 600.000 Brasilianer sind bislang an den Folgen einer Corona-Infektion verstorben. Im Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses CPI (Comissão parlamentar de inquérito) heißt es: "Präsident Jair Bolsonaro hat seine Pflicht verletzt, den Tod tausender Brasilianer zu verhindern."

Die Mitglieder der CPI empfehlen die Anklage des Staatschefs wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das ist ein bislang einmaliger Vorgang in Brasilien.

Fast jeder Brasilianer hat im Freundes-, Bekannten- und Kollegenkreis jemanden beklagt, der der Pandemie zum Opfer gefallen ist. Auch deshalb schlug der mehr als 1.100 Seiten starke Bericht ein wie ein Bombe. Denn genau genommen ist er ein Einwurf, über den das Parlament noch abstimmen muss. Erst dann wird er an den Generalstaatsanwaltschaft geschickt, der Anklage erheben kann. Ob es dazu kommt, ist völlig unklar. Viel wichtiger ist aber für die Familien der Opfer, dass ein politisches Zeichen gesetzt und eine Grenze gezogen wurde. Der Vorsitzende des Ausschusses, Senator Omar Aziz, betonte, der Bericht helfe zwar nicht, Sauerstoff, Impfstoff oder Intensivbetten zu beschaffen. "Aber der Präsident hat viele Verbrechen begangen und er wird dafür bezahlen." Der Untersuchungsausschuss fordert auch, etwa 60 andere politisch Verantwortliche vor Gericht zu stellen, darunter den ehemaligen Außen- und Gesundheitsminister sowie die Söhne des Präsidenten.

Beliebtheitswerte sinken

Der Bericht beschädigt weiter das Image des Präsidenten, dessen Popularitätswerte seit Monaten sinken. In einem Jahr stehen in Brasilien Präsidentschaftswahlen an, und Bolsonaro will aller Voraussicht nach noch einmal antreten. Doch viele seiner Wähler wenden sich ab. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, und für mehr als 19 Millionen Brasilianer ist Hunger wieder zur täglichen Realität geworden. In Umfragen liegt der linke Ex-Präsident Lula da Silva weit vor Bolsonaro und könnte ihn sogar in der ersten Runde schlagen.

Die Liste der Verbrechen, die Bolsonaro nach mehr als 60 Sitzungen und weit über 100 Zeugenanhörungen zur Last gelegt werden, ist lang: Verstoß gegen Gesundheitsmaßnahmen, Scharlatanerie, Anstiftung zu Straftaten, Fahrlässigkeit, gezielte Verbreitung von Fake-News, Fälschung von offiziellen Dokumenten und mehr. Die Mitglieder des CPI betonen, das Handeln von Bolsonaro sei "mit der Würde, der Ehre und dem Anstand des Amtes unvereinbar".

Bolsonaro selbst gab sich bei einer Veranstaltung im nordöstlichen Bundesstaat Ceará uneinsichtig. Er sei sich "absolut keiner Schuld bewusst" und sicher, für Brasilien das Richtige getan zu haben, sagte er. Dem CPI warf er vor, nur die Zeit von Staatsbediensteten verschwendet und außer "Hass und Ressentiments" nichts zustande gebracht zu haben. "Wie gut wäre es, wenn der Ausschuss etwas Produktives für unser Brasilien getan hätte", sagte Bolsonaro. "Sie haben nichts bewirkt, außer Hass und Feindseligkeit. Aber wir wissen, dass wir für absolut nichts verantwortlich sind, wir haben vom ersten Moment an das Richtige getan."

Rat von Experten ignoriert

Ausführlich wird das Versagen von Bolsonaro in dem Bericht aufgelistet, wie er Anfragen des Impfherstellers Biontech wochenlang unbeantwortet ließ und stattdessen Millionen für unwirksame Medikamente ausgab. Damit habe er bewusst den Rat von Experten ignoriert, heißt es. Immer wieder trat Bolsonaro auch auf dem Höhepunkt der Pandemie, als Brasiliens Krankenhäuser überfüllt waren und es an Sauerstoff für Corona-Patienten fehlte, in der Öffentlichkeit ohne Maske auf und machte sich auch noch darüber lustig.

In der ersten Version des Berichts wurde Bolsonaro noch Völkermord vorgeworfen. Diese Formulierung war aber getilgt worden, weil sie politisch zwischen den unterschiedlichen Parteien des Ausschusses nicht durchsetzbar war. Stattdessen einigten sich die Mitglieder auf den Terminus "Verbrechen gegen die Menschlichkeit".

Vor allem Menschenrechtsaktivisten und Vertreter der indigenen Völker kritisieren deshalb eine Verwässerung des Berichts. So fragt eine Aktivistin vom Volk der Guajajara, Sônia Guajajara, in den sozialen Medien: "Wie kommt es, dass sie beschlossen haben, 'Völkermord an Ureinwohnern' einfach zu streichen?" Das sei eine Tatsache, "das existiert". Die Todesrate unter Ureinwohnern ist überproportional hoch, auch weil Bolsonaro Hilfsmaßnahmen verweigerte. (Susann Kreutzmann aus São Paulo, 21.10.2021)