Robert beklebt geparkte Fahrzeuge, die in Gehwege und Radspuren hineinragen, mit Malerkrepp.

Regine Hendrich

Robert* ist 30 Jahre alt und arbeitet in der Kommunikationsbranche. Er hat einen Führerschein, eine Öffi-Jahreskarte – aber kein Auto. Wenn er eines braucht, mietet er es: Er sei kein "Autohasser", sagt er, sondern eben einfach vernünftig mobil.

Roberts Mobilitätsverhalten ist in Wien mehrheitsfähig: Hier haben mehr Menschen eine Öffi-Jahreskarte (820.000), als Pkws angemeldet sind (719.000). Der Anteil der mit dem Auto zurückgelegten Wege sank bis zur Pandemie massiv (von 1993 bis 2019 von 40 auf 25 Prozent), während Radfahren (von drei auf sieben Prozent) und Zufußgehen (von 28 auf 30) zunahmen.

Der Anteil der Öffi-Fahrten kletterte von 1993 bis 2019 von 29 auf 38 Prozent, sackte 2020 Corona-bedingt aber auf 27 Prozent ab. Der Rückgang erfolgte aber nicht zugunsten des Autos (auch 2020: 27 Prozent), sondern des Fuß- und Radverkehrs. Diese kletterten 2020 auf neun respektive 37 Prozent aller Wege. Dieses Umdenken spiegelt sich aber in der Platz- und Raumverteilung Wiens kaum wider: Zwei Drittel der Verkehrsflächen "gehören" offiziell dem Auto. Tatsächlich wohl mehr: Fahrzeuge, die zu groß für die von ihnen genutzten Parkplätze sind, ragen überall weit in Gehwege und Radspuren.

Polizei und Stadt ist das egal. Robert nicht. Im Frühjahr 2021 begann er, mit Malerkrepp-Klebeband auf so geparkten Autos jene Linie nachzuziehen, die diese eigentlich nicht überragen dürfen. Die Dokumentation dieser "Landnahme" postet auf dem Twitteraccount "Tape On Cars That Cross A Line" machte ihn auch international ein bisserl berühmt. DER STANDARD traf Robert zum Interview.

STANDARD: Was wollen Sie der Welt sagen?

Robert: Autos besetzen Platz, der anderen gehört. Das lässt sich so simpel wie eindrucksvoll dokumentieren: Ich ziehe die Linie, die ein Fahrzeug überragt, über das Fahrzeug. Fertig.

STANDARD: Ist das nicht kleinlich? Sind die paar Zentimeter relevant?

Robert: Wenn es nur einer wäre: ja. Es ist aber nicht bloß einer. Es geht auch nicht nur um Zentimeter: Oft sind das ein-, manchmal eineinhalb Meter. Sobald man genauer schaut, fällt auf, wie so der ohnehin knappe Raum für alle anderen noch weiter beschnitten wird. Menschen mit Kinderwägen oder Rollstühlen haben da echte Probleme. Und Radfahrer werden zu lebensgefährlichen Ausweichmanövern gezwungen.

STANDARD: Es geht also um das Einhalten von Regeln?

Robert: Nicht nur. Das "bigger picture" ist die Metapher: Gewisse Linien dürfen nicht überschritten werden, damit das Zusammenleben in immer dichter bewohnten Städten funktioniert. Konkret geht es aber darum, zu zeigen, dass das einfach nicht okay ist. Nicht nur dem Fahrzeughalter: Vielen Passanten fällt erst auf, wie viel Raum ihnen weggenommen wird, wenn sie das Tape auf Autos sehen.

STANDARD: Aber Autos sind heute eben länger und breiter als früher …

Robert: Ist es deshalb okay, dass jemand sich ein für die verfügbare Infrastruktur zu großes Auto kauft und sein daraus resultierendes individuelles Problem zum Problem aller anderen macht?

STANDARD: Bleiben wir bei Ihrem Bild von Linien, die man nicht überschreiten darf: Überschreiten Sie die nicht selbst?

Robert: Ich beschädige nicht. Ich verwende Maler-Abdeckband. Das löst sich rückstandsfrei. Eventuell ist es "Besitzstörung" – aber die begeht auch der Parkende: Es gibt eine klare Grenzlinie, aber der Wagen ragt weit – einen, eineinhalb Meter – drüber. Nur wird das nicht geahndet.

STANDARD: Berechtigt das zu Selbstjustiz?

Robert: Selbstjustiz würde heißen, dass ich strafe. Das tue ich nicht: Ich setze eine Markierung, die keinen Schaden anrichtet. Ich mache durch Aktivismus auf Fehlverhalten aufmerksam. Natürlich könnte ich auch anzeigen. Aber es geht mir nicht um Einzelfälle. Um das Problem an sich anzuzeigen, braucht es den größeren Hebel.

STANDARD: Wie groß ist dieses Problem denn? Wie viele Klebebandrollen haben Sie verbraucht?

Robert: Etliche – und jede war 50 Meter lang. Aber so kann man das nicht bewerten: Das Feedback ist eindeutig. Ich treffe einen Nerv. Ich bekomme Fotos von überall. Aus Frankreich, aus Brüssel, aus Deutschland. Auch von Leuten, die meinem Beispiel folgen.

STANDARD: "Wer hat’s erfunden?" heißt es in der Werbung. Sie?

Robert: Ich hatte kein Vorbild. Aber neulich wurde mir gesagt, dass es das in den 1980er-Jahren schon in München gab. Mit abwaschbarer Farbe und Schlagobers. In Frankreich wurden Autos auf Radwegen mit meterlangen Radweg-Teppichen überzogen, in England ebenso: Nein, ich habe das nicht erfunden.

STANDARD: Aber rütteln Sie da nicht am Watschenbaum? Beim Auto endet für viele der Spaß.

Robert: Natürlich gibt es ein Risiko. Ich schaue deshalb, dass da keiner ist: Zehn Sekunden – und ich bin weg. Ich suche keine Konfrontation, sondern will aufmerksam machen. Manche belächeln das – aber ich zeige auch, wie Gefahren entstehen: Diese Fahrzeuge ragen in Schutzräume, die anderen sichere Mobilität gewährleisten sollen. Es gab deshalb schon Unfälle. Mit Verletzten, sogar Toten. Und da ist noch ein Punkt: das Aufbrechen der über Jahrzehnte anerzogenen Botschaft, dass Autos sogar im Stillstand Vorrang und Vorrechte haben. Wir haben uns zu sehr daran gewöhnt, dass man die Stadt für Auto statt für Menschen gemütlich macht.

STANDARD: Ulli Sima, Wiens Verkehrsstadträtin, sagt, sie weigere sich, Autofahrer "mutwillig" zu ärgern. Ärgern Sie Autofahrer mutwillig?

Robert: Natürlich! Irgendwer sagt immer: "Die armen Autofahrer! So viel Stau! Dreimal um den Block, um einen Parkplatz zu finden! Und jetzt kommst auch noch du mit dem Klebeband!" Das klingt so, als würde jemand dadurch diskriminiert, weil er auf falsches Verhalten hingewiesen wird. Die Frage ist aber eine andere: Geben wir der Mehrheit Möglichkeit und Raum, klima- und umweltverträglich mobil zu sein – oder tolerieren und beschützen wir weiter das asoziale Verhalten einiger weniger.

Robert will seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen. Unter @TapeOnCars findet man ihn auf Twitter.

(Thomas Rottenberg, 22.10.2021)