Die US-Justiz besteht darauf, Assange in den Vereinigten Staaten wegen Spionagevorwürfen den Prozess zu machen.

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In einer Woche – am 27. und 28. Oktober – wird das Verfahren gegen Wikileaks-Gründer Julian Assange fortgesetzt: Die USA wollen erneut versuchen, den in London inhaftierten Australier ausliefern zu lassen. Zu Jahresbeginn hatte eine Richterin das Auslieferungsbegehren mit Hinblick auf Assanges angegriffene psychische Gesundheit und die zu erwartenden Haftbedingungen in den USA abgelehnt. Dagegen haben die USA Berufung eingelegt.

Die Londoner Vertreterin von Reporter ohne Grenzen (ROG), Rebecca Vincent, verfolgt den Auslieferungsprozess aus dem Gerichtssaal. Zuletzt schloss sich die Organisation neuerlich einem offenen Brief an das US-Justizministerium an – mit dem Appell, die Vorwürfe gegen Assange endlich fallenzulassen. Denn ein kürzlich veröffentlichter Artikel verschärft die Befürchtungen von ROG davor, wie Assange in den USA von den Behörden behandelt werden könnte. "Yahoo News" berichtete unter Berufung auf dutzende US-Sicherheitsbeamte von diffusen Plänen der Trump-Regierung, Assange kidnappen oder gar umbringen zu lassen.

Die Londoner Vertreterin der Organisation Reporter ohne Grenzen, Rebecca Vincent, ruft die USA auf, die Vorwürfe fallenzulassen.
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STANDARD: Inwiefern ist der Bericht von "Yahoo News" für das Auslieferungsverfahren relevant?

Vincent: Mehr als 30 amerikanische Sicherheitsbeamte beziehungsweise ehemalige Sicherheitsbeamte wurden für diesen Artikel interviewt. Davon bestätigten acht, dass CIA-Beamte damit beauftragt wurden, Szenarien für eine Entführung beziehungsweise ein Attentat auf Assange auszuarbeiten. Es ist extrem verstörend, dass eine Regierung – insbesondere eine demokratisch gewählte – veranlasst, dass derartige Pläne für einen kritisch gesinnten Herausgeber geschmiedet werden. Der Bericht verstärkt die Zweifel von ROG über die Beweggründe der Verfolgung von Assange. Außerdem lässt er unsere Alarmglocken schrillen: Wie wird ein Land, das solche Pläne ausheckt, ihn in Gewahrsam behandeln? Wir wissen, dass die US-Anwälte im Berufungsverfahren versuchen werden, die Sorgen des Gerichts vor den Haftbedingungen in den USA zu mildern. Sie wollen angeblich Garantien dafür vorweisen, dass Assange nicht mit Sondermaßnahmen – den sogenannten Special Administrative Measures (SAMs) – belegt würde. Diese können etwa Kontaktsperren für Angehörige oder Rechtsvertreter sowie strenge Isolation beinhalten. Doch das Justizministerium ist Teil der Exekutive und kann so etwas gar nicht garantieren. Der Bericht von "Yahoo News" steigert daher unsere Sorgen vor einer Auslieferung.

STANDARD: Wie blicken Sie auf das Berufungsverfahren, das nächste Woche startet?

Vincent: Ich bin sehr besorgt, dass der Richterspruch vom Jänner aufgehoben wird. Die Ablehnung des Auslieferungsbegehrens der USA fußt auf einer schwachen Begründung. Die Entscheidung wurde lediglich mit dem psychischen Zustand von Assange begründet. Die Richterin stellte sich damit hinter die Meinung der US-Anwälte, dass Assange der Spionage angeklagt werden darf. Wenn Assange ausgeliefert wird, drohen ihm 175 Jahre Haft. Er wäre der erste Herausgeber, der unter dem Spionageakt angeklagt wird. Zudem geht es für ihn um Leben und Tod, denn er ist psychisch sehr fragil. Vor Gericht wird mit seinem Leben gespielt: Anklage und Verteidigung streiten darum, wie wahrscheinlich es ist, dass er bei einer Auslieferung Suizid begeht. Ich befürchte, Assange wird noch lange hinter Gittern bleiben. Auch wenn das Auslieferungsbegehren der USA erneut abgelehnt wird, so wird die US-Seite wohl noch ein weiteres Mal in Berufung gehen. Weil Assange laut dem Richterspruch vom Jänner einen Anreiz hat zu fliehen, wird er wohl weiter in Haft bleiben müssen.

STANDARD: Warum ist der Fall Assange so wichtig?

Vincent: Für uns stellt die Anklage eine Gefahr für die Pressefreiheit und Meinungsfreiheit dar. Hier wird dem Journalismus der Prozess gemacht. Kein Herausgeber, kein Journalist und keine Quelle sollte für die Veröffentlichung von Informationen von öffentlichem Interesse angeklagt werden. Der Fall Assange hat schon jetzt eine abschreckende Wirkung für sicherheitspolitische Berichterstattung. Wir werden nie wissen, wie viele wichtige Geschichten deshalb nicht berichtet wurden. Es geht hier nicht bloß um Assange, der in Großbritannien und den USA vielen als unsympathisch gilt: Hier wird ein Präzedenzfall geschaffen. Ein australischer Staatsbürger wird in den USA wegen seiner Publikationen des Verrats bezichtigt. So sieht es aus, wenn ein einziger Staat all seine Ressourcen für den Versuch einsetzt, jemanden mundtot zu machen. Künftig könnte es auch jeden anderen treffen.

STANDARD: Was fordert ROG von Großbritannien und den USA?

Vincent: Die sofortige Freilassung von Julian Assange. US-Präsident Joe Biden sollte sich von den im "Yahoo News"-Artikel geschilderten Plänen seines Vorgängers eindeutig distanzieren und den Fall Assange schließen. Es war auch die Trump-Regierung, die die Anklage gegen Julian Assange erhob. Biden sollte sein Justizministerium anweisen, die Vorwürfe wieder fallenzulassen. Die aktuelle Strategie der US-Regierung scheint allerdings, den Fall bis zum bitteren Ende zu verfolgen. Doch das müssen sie nicht tun. Außerdem fordere ich, dass man mich meine Arbeit tun lässt. Reporter ohne Grenzen beobachtet weltweit Gerichtsfälle gegen Journalisten. Ich selbst verfolge Anhörungen in der Türkei, in Aserbaidschan und in Großbritannien. Doch so schwer wie in diesem Fall wurde es uns noch nie gemacht. Obwohl Großbritannien sonst die Linie vertritt, dass Gerechtigkeit sichtbar sein muss, hat uns das Gericht im Vorjahr die Akkreditierung für die Assange-Anhörungen verweigert. Ich musste mich um fünf Uhr morgens anstellen, um in den Gerichtssaal zu kommen. Manchmal gab es gar nur zwei Sitze. Ich war auf die Hilfe von Aktivisten angewiesen, um einen Platz zu ergattern und meine Arbeit tun zu können. Ich hoffe noch darauf, dass ich bei dem Hauptverfahren nächste Woche einen Sitzplatz zugeteilt bekomme. (Flora Mory, 22.10.2021)