In den strategischen Planungsstäben von EU, Nato und Mitgliedsstaaten kommt Nervosität auf, weil die Zahl von Migranten und Asylsuchenden in Europa wieder deutlich im Steigen ist. Nicht nur an den EU-Außengrenzen, auch im Inneren der Gemeinschaft der offenen Grenzen nimmt der Druck zu.

Letzteres wird "Sekundärmigration" genannt. Gemeint ist, dass Menschen, so erst einmal den Weg in das Territorium der Union in einem "Eintrittsland" erfolgreich geschafft haben, relativ unbehelligt durch mehrere EU-Staaten in Richtung ihrer Zielländer reisen.

Erstmals seit der Wanderungsbewegung über die Balkanroute 2015 werden diese Phänomene gerade quer durch die EU verstärkt beobachtet. Die Tragödie von Siegendorf, wo zwei junge Männer in einem Kleinbus eingeklemmt zwischen 27 weiteren Flüchtlingen mutmaßlich erstickten, ist nur ein kleiner Mosaikstein in diesem Bild.

Grenze zwischen Polen und Belarus.
Foto: imago images/SNA

Plötzlich gibt es auch an den EU-Außengrenzen im Baltikum und in Polen ein gravierendes Problem. Der benachbarte Diktator von Belarus, Alexander Lukaschenko, verwendet Migranten als Waffe, lässt sie etwa aus dem Irak einfliegen, treibt sie Richtung Westen.

Am Ärmelkanal sind die Zahlen der Überfahrten explodiert, was einen gröberen Konflikt zwischen den Regierungen in Paris und London auslöste. Skandinavische Länder haben Einreisen und die Sozialhilfen für Asylwerber limitiert. "Nullzuwanderung" lautet das Motto in Kopenhagen. Im Süden geht es auf und ab. Relativ ruhig ist es derzeit in Griechenland, dafür steigen in Österreich und Deutschland die Zahlen der Asylanträge deutlich. Das hängt zusammen.

Keine Gesamtlösung

Alles wie gehabt im Jahr 2021. Die Europäische Union hat bei der gemeinsamen Migrationspolitik, die sie 1999 in Tampere ausgerufen hat, also noch vor der Erweiterung ins schwierige Osteuropa, zwar Fortschritte gemacht, aber keine Gesamtlösung gefunden. Das Ziel war und ist heute: Es muss eine humane Asyl- und Flüchtlingspolitik ohne Wenn und Aber geben. Jeder, der verfolgt wird, bekommt Aufenthalt. Daneben soll es reguläre Einwanderung geben, mit klaren Regeln, was die überalterte Bevölkerung in Europa braucht, um produktiv und wohlhabend zu bleiben. Tatsächlich sind seit dem Jahr 2000 25 Millionen Menschen zugewandert.

Das dritte Element ist erklärtermaßen der Kampf gegen irreguläre Migration, gegen Schlepperwesen und organisierte Kriminalität. Letztere ist, wie 2015 Parndorf und jetzt Siegendorf gezeigt haben, ein Kernübel, ein Schatten über jeder Migrationspolitik. Diese sieht auch vor, dass abgeschoben werden muss, wer kein Aufenthaltsrecht hat.

Leider wird die Debatte dazu selten anhand dieser Leitlinien geführt. Sie wird allzu oft politisch instrumentalisiert und polarisiert, vor allem durch rechte und extrem rechte Parteien, die ihrem Ausländerhass und EU-Skeptizismus freien Lauf lassen. Die Diskussion wird aber auch von Hilfsorganisation oder NGOs nicht selten unnötig emotionalisiert und moralisiert. Wenn etwa so getan wird, als seien Regierungen oder einzelne Politiker "schuld" am Tod von Flüchtlingen, schießt das weit über das Ziel hinaus.

Beides – Emotion und Polarisierung – sind keine brauchbaren Mittel. Wir brauchen mehr politische Mitte – und Staats- und Regierungschefs, die gemeinsame Problemlösung nicht von einem EU-Gipfel zum nächsten schieben. (Thomas Mayer, 22.10.2021)