Ein Archivbild von Osman Kavala vor dem Jahr 2017 – seitdem befindet sich der 64-Jährige in U-Haft. Sein Schicksal ist nun Auslöser für eine beispiellose Attacke Recep Tayyip Erdoğans auf zehn Botschafter.

Foto: AFP

Seit Samstagabend diskutiert die gesamte politische Türkei nur noch eine Frage: Wird er es wirklich tun? In einer Rede kurz davor hatte Präsident Recep Tayyip Erdoğan auf einer Großveranstaltung seiner Partei angekündigt, die Botschafter aus den USA, Deutschland, Frankreich, Kanada, Dänemark, der Niederlande, Norwegen, Schweden, Finnland und Neuseeland aus der Türkei hinauswerfen zu wollen.

"Kümmern Sie sich darum", rief er von der Kundgebung in Eskişehir seinem Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu zu, "kümmern Sie sich darum, diese zehn Botschafter so schnell wie möglich zur ‚Persona non grata‘ zu erklären", also zu unerwünschten Personen. Entweder diese Botschafter würden "lernen, die Türkei zu verstehen, oder sie müssen hier verschwinden", rief er der begeisterten Menge zu.

Skepsis in eigener Partei

Die Begeisterung seiner Fans für eine solche bislang beispiellose Eskalation gegenüber dem Westen wird aber offenbar selbst in seiner Partei nicht überall geteilt. Schon ein Blick in die Zeitungen am Sonntag zeigt, dass die regierungsnahe Presse nicht so recht weiß, wie sie mit dem neuesten Vorstoß ihres Bosses umgehen soll.

Das wichtige Propagandablatt Sabah versteckt die Nachricht auf Seite zehn, während die Oppositionszeitung Cumhuriyet groß damit aufmacht, weil sie davon ausgeht, dass Erdoğan sich mit einem solchen Schritt selbst "in den Abgrund" stürzen würde.

Wichtiger noch als die Presse ist aber die Haltung von Außenminister Çavuşoğlu. Als am letzten Montag ein Brief der zehn Botschafter einging, soll Erdoğan bereits geschäumt haben. Darin forderten sie die Freilassung des bekannten Menschenrechtlers und Kulturmäzens Osman Kavala, der seit 2017 in Untersuchungshaft sitzt, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bereits 2019 seine Freilassung angeordnet hatte. Österreich hatte das Papier nicht unterschrieben, sich aber im Nachhinein damit solidarisiert.

Causa für den Außenminister eigentlich erledigt

Das Außenministerium musste die Botschafter umgehend einbestellen und ihnen mitteilen, dass ihr Verhalten "unangemessen und inakzeptabel" sei. Außenminister Çavuşoğlu war offenbar der Meinung, dass die Angelegenheit damit erledigt ist, und ging auf eine lange geplante Asien-Reise – unter anderem nach Südkorea, um dort Panzermotoren einzukaufen. Erdoğan selbst befand sich auf einer viertägigen Afrika-Reise. Auf dem Rückweg nach Ankara gab er den mitreisenden türkischen Journalisten ein ausführliches Interview und machte dort bereits klar, dass er die Sache mit den Botschaftern, anders als sein Außenminister, noch lange nicht für erledigt hält.

In seiner bekannten Angriffsrhetorik sagte er an die Adresse der Botschafter: "Steht es euch zu, der Türkei eine solche Lektion zu erteilen?" Der Brief sei "unanständig". Indirekt drohte er schon am Donnerstag mit dem Rauswurf der Botschafter. In einschlägigen Kreisen in Ankara hieß es, das Außenministerium habe in den folgenden zwei Tagen versucht, Erdoğan von einer Eskalation im Streit um die Freilassung von Kavala abzubringen. Vergeblich, wie der Präsident am Samstagnachmittag klarmachte. Er will offenbar den Affront.

Ablenkungsmanöver?

Was treibt Erdoğan an, sich mit den USA, Teilen der EU, Kanada und Neuseeland gleichzeitig anzulegen? Oppositionsführer Kemal Kiliçdaroğlu twitterte am Samstagabend: "Erdoğan will mit der Affäre nur von der desolaten wirtschaftlichen Situation des Landes ablenken." Tatsächlich war die wirtschaftliche Situation der Türkei seit dem Amtsantritt von Erdoğan nie so bedrohlich wie heute. Die türkische Lira auf Rekordtief, die Lebensmittel werden jeden Tag teurer, und die Arbeitslosigkeit ist derzeit der einzige Indikator, der nach oben geht.

Viele Türken und Türkinnen sind verzweifelt, weil sie nicht mehr wissen, wie sie ihre Familien ernähren sollen, gerade auch unter der Anhängerschaft Erdoğans. Entsprechend geht die Zustimmung für den Präsidenten steil nach unten. Erdoğan hofft offenbar, mit seiner beispiellosen Attacke auf westliche Länder, das Steuer noch herumreißen zu können. Also wird er es wirklich tun? Außenminister Çavuşoğlu wurde am Sonntagabend zurückerwartet. Er müsste die Ausweisungen formal vollziehen. Am Montag wird sich zeigen, ob Erdoğan es wirklich ernst meint. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 24.10.2021)