Der Theologe, Jesuit und Publizist Andreas R. Batlogg fordert im Gastkommentar volle Aufklärung von Missbrauchsskandalen in der Kirche.

Der Missbrauchsreport fachte in Frankreich eine Debatte über das Beichtgeheimnis an. Beten und Fasten allein tragen zur Aufklärung nicht bei.
Foto: AFP / Denis Charlet

Meine Herren, Sie sind eine Schande für die Menschlichkeit": Wie würden Kardinal Christoph Schönborn oder der aktuelle Vorsitzende der österreichischen Bischofskonferenz, Erzbischof Franz Lackner, wohl auf eine solche Feststellung reagieren? Zu hören bekam diesen Satz kürzlichder Vorsitzende der französischen Bischofskonferenz, Erzbischof Éric de Moulins-Beaufort von Reims, bei der Vorstellung des 2500 Seiten starken Abschlussberichts einer unabhängigen, im November 2018 von der katholischen Kirche in Auftrag gegebenen Untersuchungskommission (CIASE). Von François Devaux, Missbrauchsopfer und Gründer des Opferverbands "La Parole Libérée".

Schätzungsweise 330.000 Opfer und 3200 Täter hat diese Kommission in Frankreichs Kirche seit 1950 ausfindig gemacht und benannt: astronomische Zahlen. Entsprechend groß die Wut und die Betroffenheit. Devaux machte klar: "Sie müssen für alle diese Verbrechen bezahlen." Es geht um Milliardensummen.

80 Prozent der Opfer waren Buben zwischen zehn und 13, 20 Prozent Mädchen unterschiedlicher Altersgruppen, bei fast einem Drittel der Taten handelt es sich um Vergewaltigungen. Eine einzige Tragödie. Und eine moralische Bankrotterklärung für die Kirche Frankreichs, die sich gern die "älteste Tochter der Kirche" nennen lässt, seitdem sich der Frankenkönig Clovis im 5. Jahrhundert taufen ließ.

Ob USA, Deutschland, Frankreich – es führt kein Weg daran vorbei, er ist alternativlos: Ohne schonungslose Offenheit und Transparenz wird die katholische Kirche, in Corona-Zeiten ohnehin bereits über Relevanzverlust klagend, in der Bedeutungslosigkeit versinken. Der Institution, die vom Glauben spricht, glauben immer weniger. Sexuelle Übergriffe durch Priester, Ordensleute und Mitarbeiter der Kirche gibt es weltweit. Schauplätze waren Pfarreien, Schulen und andere kirchliche Einrichtungen.

Systemische Vertuschung

Zu den Verbrechen kam die jahrzehntelange systemische Vertuschung durch Verantwortungsträger. Seit dem vatikanischen Missbrauchsgipfel im Februar 2019 sind aber auch Bischöfe und Kardinäle nicht mehr tabu, wenn sie falsch reagiert haben. "Brutal" und "wahr" nannte Erzbischof de Moulins-Beaufort den Bericht: "Angesichts so vieler zerrütteter, oft zerstörter Leben schämen wir uns und sind entrüstet." Papst Franziskus ließ über seinen Sprecher Matteo Bruni verlauten, seine Gedanken seien bei den Opfern. Er danke ihnen für den Mut, die Taten anzuzeigen.

Ich fürchte, solche Beteuerungen wollen (und können) viele Betroffene nicht mehr hören. In Wallung bringt mich jedoch auch die Innenseite: Die Missbrauchsthematik ist vielen Priestern und Ordensleuten lästig (geworden). Dass auch Jesuiten unter den Tätern waren, nicht nur Mitglieder anderer in der Erziehung von Kindern und Jugendlichen tätige Orden, auf die anfangs abschätzig heruntergeschaut wurde, das kratzte am Selbstwertgefühl. Auch an meinem. Mitglied einer "Tätergemeinschaft" sein: Wer will das schon?

Ich kenne das: Ich habe genug davon gelesen und gehört ... Warum schon wieder? Wer 2021 noch so denkt und redet, tut Betroffenen ein weiteres Mal Unrecht. Auch wenn der Vergleich hinkt: So wie manche seinerzeit meinten, nach der zwölfjährigen NS-Zeit mehr oder weniger nahtlos an die Vorkriegszeit anschließen zu können, so glauben manche in der Kirche offenbar immer noch: Es reicht allmählich! Man delegiert das Thema an die Hierarchie und an Gremien. Dass dort qualifizierte Auseinandersetzung stattfindet, ist gewiss. Auch wenn man damit in der Gesellschaft schwerlich "punkten" kann. Von der Agenda des konkret und ehrlich gelebten kirchlichen Lebens darf die Thematik nicht verschwinden. Emotionale und sexuelle Reife, seelische Gesundheit und seelisches Gleichgewicht, Wahrhaftigkeit: All das spielt mit hinein in den Themenkomplex sexueller Missbrauch und sexualisierte Gewalt.

Perspektive der Opfer

"Nachdem sich Opfer kirchlicher Pastoral in der Kirche zu Wort gemeldet haben", so der deutsche Jesuit Klaus Mertes, der im Jänner 2010 als Rektor des Berliner Canisiuskollegs an die Öffentlichkeit ging und diese (wie auch seinen eigenen Orden) schockierte, "sind sie nicht einfach wieder weg vom Platz. Die Opferperspektive einzunehmen bedeutet, über Kirche und Glauben unter der Voraussetzung sprechen, dass Opfer kirchlicher Pastoral oder andere, existenziell vom jeweiligen Thema Betroffene mithören. Die Heuchelei in der Kirche fängt da an, wo man untereinander über die vermeintlich Abwesenden anders spricht als in ihrer Anwesenheit. Die Opfer kirchlicher Pastoral sind ein Resonanzboden, in dem sich die Kirche selbst reden hört und so ihr Reden prüfen kann."

Damit ist auf den Punkt gebracht, worum es in den Kirchen gehen muss – neben aller juristischen, psychotherapeutischen oder theologischen Aufarbeitung: Miteinander reden! Aber eben: Anders reden. Sensibler, ernsthafter, echter. "Compassion" ist gefragt. Das kann man lernen, sich schulen lassen. Jede taktische Rhetorik, jeder (oft belanglose) Betroffenheits- oder Pastoraljargon verbietet sich von selbst.

Mit Scham und Trauer haben Jesuiten in Frankreich, die ebenfalls unter den Tätern sind, auf den Bericht reagiert: "Gemeinsam, als Kirche, müssen wir alle Lehren aus diesem Bericht ziehen, so schwer es auch sein mag, ihn anzunehmen. Wir wissen, dass es die Wahrheit ist, die es uns ermöglicht, voranzukommen." Im Johannesevangelium heißt es bekanntlich: "Die Wahrheit wird euch frei machen." Wie viel Wahrheit verträgt die Kirche? In Frankreich? Hierzulande? (Andreas R. Batlogg, 25.10.2021)