Aus Lyon nach München – Serge Dorny, der einst bei Gerard Mortier "studiert" hat.

Soulage

Wenn Serge Dorny, der neue Intendant der Bayerischen Staatsoper, über "Unschuldsvermutung" spricht, bezieht er sich nicht auf die Vorgänge rund um Altkanzler Sebastian Kurz. Der Begriff ummantelt für den "europäischen Flamen", wie Dorny sich selbst charakterisiert, den zentralen Punkt der Oper Peter Grimes, in der ein Mensch von der Missgunst einer Gemeinschaft in den Suizid getrieben wird.

Anhand dieser Oper von Benjamin Brittens, die in München Stefan Herheim, der nahende Chef des Theaters an der Wien, inszenieren wird, will Dorny nur verdeutlichen, dass in seiner Programmierung brisante Themen mit gesellschaftlicher Relevanz eine Rolle spielen sollen.

Politisch relevant

"Ein Opernhaus ist kein Mausoleum! Und ich möchte nicht der Türsteher eines solchen sein! Was ich vom langjährigen Intendanten der Salzburger Festspiele, Gerard Mortier, mitgenommen habe, ist, dass man Stücke wählen soll, die in sich gesellschaftliche und also politische Relevanz tragen." Dorny will "jedoch nicht demagogisch klingen – ich verstehe meine Werkauswahl als Angebot.

Dabei ist es wichtig, das Publikum auch nicht zu unterschätzen. Ich will das Publikum nicht durch ein anderes, neues ersetzen, ich will es erweitern." Dazu passt, dass er diese Spielzeit mit dem Satz "Jeder Mensch ein König" überschrieben hat, einem Zitat von Dezső Kosztolányi. Da scheint Humanismus zentral zu sein.

Alte Konflikte

Mortier, der sich gerne auch mit Politikern angelegt hat, in seiner Salzburger Zeit mit der FPÖ ebenso wie mit Bundespräsident Thomas Klestil, ist jedoch nicht in jedem Punkt Vorbild. "Der Konflikt war für Mortier ein Motor, er kämpfte gerne. Wir waren ähnlich, was Überzeugungen anbelangt, nicht jedoch in der Art, wie wir sie ausdrücken ..." Deftige Kritik am bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder wird es also nicht geben. "Da würde ich Politik im ideologischen Sinne des Wortes machen. Mein Ausdrucksmittel in der Öffentlichkeit ist doch eher die Bühne."

Das hat Dorny, 1962 in Wevelgem geboren, wohl im Laufe seiner schillernden Karriere überall so gehalten. Er war in den 1980ern Dramaturg an der Brüsseler Oper La Monnaie, wo er Teil des Teams von Mortier war. Später leitete er das Flandern-Festival, um 1996 Generaldirektor des London Philharmonic Orchestra zu werden. Besonders seine Arbeit an der Opéra National de Lyon sorgt für Aufmerksamkeit. Da gab es Uraufführungen von John Adams’ The Death of Klinghoffer oder von Kaija Saariahos Emilie und Péter Eötvös’ Lady Sarashina. Schließlich wurde sein Haus 2017 zum Opernhaus des Jahres gewählt.

Erfahrungen auspacken

Was Wunder, dass Dorny bei all den Ortswechseln sagt, er sei darin geübt, sich gründlich umzustellen. Er hat subventionierte Systeme kennengelernt, aber auch London, wo die Förderdecke sehr dünn war. Man habe natürlich Überzeugungen, die man nicht abstreift wie einen alten Mantel. Die alten Erfahrungen, die man im Gepäck mitgenommen hat, "kann man jedoch nicht auspacken. Wenn ich in London versuchen würde, München zu machen – oder umgekehrt– wäre das falsch." Man muss Tradition und Geschichte eines Hauses kennen und darauf aufbauen.

All seine Flexibilität konnte 2013 jedoch in Dresden nicht fruchten. Ebendort hatte Dorny an der Semperoper einen Vertrag zur Vorbereitung seiner Intendanz erhalten, die 2014 glanzvoll starten sollte. Der Vertrag wurde jedoch von der Politik vorzeitig gekündigt, Dorny ging zurück nach Lyon und klagte erfolgreich auf Entschädigung. Dass Dirigent Christian Thielemann damals schon in Dresden als Musikchef wirkte, wird zu den Konflikten nicht unwesentlich beigetragen haben.

Zu lange her

Das sei sehr lange her, darüber will Dorny nicht sprechen. Er plaudert lieber über seine Vision, das von Nikolaus Bachler übernommene Haus zu öffnen, das auch eine Art "Piazza" sein könnte, ein urbaner Treffpunkt, ein Ort des geistigen Austauschs, an dem Dorny auch eine Repertoireweitung versuchen will.

"Es gibt an die 60.000 Opern, gespielt werden aber nur an die 80, und selbst dieses Repertoire wird weiter verengt." Aus diesem üppigen Fundus will er schöpfen. Leider kann man ja bei verstorbenen Komponisten keine neuen Werke bestellen. Dornys Kandidaten wären Alban Berg, Ferruccio Busoni und Alexander Zemlinsky. Nun ja. Für Dorny ist ein großes Werk jedenfalls nicht nur das "besonders Populäre".

In Werke eingreifen

Eine bedeutende Oper durchwandere für ihn die Geschichte, ohne zu altern, da es eine Aussage in sich trage, die relevant bleibe. Das betrifft in dieser Saison die Operette Guiditta von Lehár, wie auch Berlioz’ Les Troyens und Schostakowitschs Die Nase, welche Kirill Serebrennikow von Moskau aus inszeniert und die am Sonntag Musikchef Vladimir Jurowski dirigiert. Noch kurz zur aktuellen Debatte: Darf man in ein Meisterwerk eingreifen, andere Elemente, auch musikalische, integrieren? "Wenn es nur ein Trick ist, nein! Eine Änderung um der Änderung willen, nein! Ich bin aber dafür, wenn es durchdacht ist, wenn man den Respekt für den Text spürt." Es wird also zweifellos spannend mit und für Dorny. (Ljubiša Tošic, 23.10.2021)