Frankreichs Präsident Emmanuel Macron befürwortet neue, flexiblere Schuldenregeln. Den Status Quo erhalten wollen neben Österreich auch die Niederlande, Lettland, Finnland, Dänemark, Schweden, die Slowakei und Tschechien.

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An der Coronakrise liegt es nicht, dass die EU-Kommission die europäischen Haushaltsregeln neu bewerten will. Auch wenn die Schulden- und Defizitregeln für die pandemische Notfallpolitik außer Kraft gesetzt wurden: Die Debatte stand bereits für 2020 auf dem Plan, durch die Pandemie wurde sie verschoben. Corona dürfte aber sehr wohl einen Einfluss darauf haben, wie die Neubewertung des Stabilitätspakts ausfällt. 60 Prozent der Wirtschaftsleistung dürfen die Staatsschulden höchstens betragen, Defizite nicht mehr als drei Prozent. Andernfalls drohen Strafen. Ein Korsett, das effektive Krisenpolitik während der Pandemie unmöglich gemacht hätte. Sonst wäre der Pakt nicht bis Ende 2022 ausgesetzt worden.

Jetzt geht es darum, ob man zurück will zu einem Status Quo, der Ausnahmen für den Krisenfall erlaubt. Oder, ob es flexiblere Regeln braucht. Befürworter des Stabilitätspakts argumentieren, dass das europäische Regelwerk seine Flexibilität unter Beweis gestellt habe. In der Pandemie haben Staaten große Defizite verbucht, die Schuldenquoten sind stark angestiegen. Sobald die Krise vorbei ist, könnte man wieder zum sparsamen Haushalten übergehen. Und überhaupt seien niedrige Schuldenquoten die beste Versicherung für die Krise, weil der finanzielle Spielraum dann größer ist.

Die Auswirkungen der Sparpolitik nach der Finanzkrise spürt Griechenland noch heute. Wie die Finanzkrise die Welt verändert hat und was daraus gelernt wurde, können Sie hier nachlesen.
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Sparsames Österreich

Österreich vertritt diese Position. Und mit Österreich eine Reihe kleinerer Länder wie Dänemark, Schweden, die Niederlande und Finnland. Die Tendenz geht allerdings in die entgegengesetzte Richtung. Die grüne Wende ist eine riesige wirtschaftliche und politische Herausforderung. Man könne sie nur meistern, wenn man sich keine zu strengen Haushaltsregeln auferlegt, lautet das Argument. Frankreich pocht auf mehr Flexibilität, Italien auch. Und selbst in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren ein Paradigmenwechsel angebahnt, beobachtet Richard Grieveson, stellvertretender Direktor des Wiener Instituts für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW). Nicht nur hat die größte Volkswirtschaft Europas den EU-Aufbaufonds mitgetragen, der schuldenfinanzierte EU-Zuschüsse für den grünen Wiederaufbau vorsieht. Auch die deutsche Krisenpolitik war nicht von Sparsamkeit geprägt. Verantwortet hat das als Finanzminister Olaf Scholz (SPD), voraussichtlich bald deutscher Kanzler.

Auch wenn Olaf Scholz (SPD) in der Vergangenheit betonte, dass der Stabilitätspakt keiner Aktualisierung bedürfe, stand im Wahlprogramm seiner Partei, dass der Pakt zu einem "Nachhaltigkeitspakt" weiterentwickelt werden müsse.
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In den vergangenen Jahren gab es einen Paradigmenwechsel, was öffentliche Finanzen betrifft. Sparen ist out. Grieveson führt das neben der Coronakrise auch auf die Erfahrungen nach der Finanzkrise zurück. Die Sparpolitik habe das Wachstum abgewürgt. Zur erhofften starken Reduktion der Schuldenquoten in Südeuropa habe sie deshalb auch nicht geführt, Griechenlands Schuldenquote lag 2020 etwa bei 205,6 Prozent. Auch wegen Corona liegt die durchschnittliche Schuldenquote in Europa weit jenseits der erlaubten Grenze. Die vom Stabilitätspakt vorgeschriebenen 60 Prozent des BIP liegen für viele Staaten in weiterer Ferne. Allerdings besagt der Stabilitätspakt, dass die Schulden binnen 20 Jahren auf das vorgeschriebene Niveau gedrückt werden müssen. Die Haushaltskriterien zu erfüllen würde Jahrzehnte der Sparpolitik bedeuten. "Verlorene Jahrzehnte", wie Grieveson sagt.

Wie flexiblere Regeln aussehen könnten

Die Klimawende, aber auch Digitalisierung und der Wiederaufbau nach der Coronakrise werden viel Geld kosten. Wie genau flexiblere Regeln helfen könnten die Kosten zu stemmen, ist offen. Die Brüsseler Denkfabrik Bruegel schlug vor, Klimainvestitionen bei der Berechnung von Schulden nicht zu berücksichtigen. Denkbar ist auch, dass die die erlaubten Staatsschulden und -defizite einfach neu beziffert werden. Ökonomen des Europäischen Stabilitätsmeachnismus (ESM) schlagen vor, die Schuldengrenze auf 100 Prozent des BIP anzuheben und die Defizitgrenze bei drei Prozent zu belassen. Zudem soll eine Ausgabenregel sicherstellen, dass die Staatsausgaben nicht schneller wachsen dürfen als die Wirtschaft eines Landes.

Für Marcell Göttert von der wirtschaftsliberalen Agenda Austria wäre eine Lockerung der Stabilitätsregeln das "falsche Signal zur falschen Zeit". Die Schulden in Europa seien zu hoch, man sollte diesen Zustand nicht zementieren sondern die Schuldenstände zurückfahren. Die skandinavischen Länder würden zeigen, dass solide Haushaltspolitik und Investitionen kein Widerspruch sind. Möglicherweise sind es sogar die Haushaltsregeln, die zu sinnhaften Investitionen zwingen, sagt Göttert: "Wenn ich nur ein begrenztes Budget zur Verfügung habe, muss ich meine Ressourcen sinnvoll einsetzen".

Österreich als Profiteur lockerer Regeln

Obwohl Österreich den Stabilitätspakt beibehalten will, wäre das Land ein Profiteur lockerer Regeln, erklärt WIIW-Ökonom Grieveson. Der Grund: Österreichs Wirtschaft ist eng mit Osteuropa verbunden. Während die grüne Transformation auch für die reichsten europäischen Volkswirtschaften eine riesige Aufgabe ist, ist sie für weniger entwickelte Ökonomien im Osten eine noch viel Größere. In Polen und Tschechien etwa gibt es viele Zulieferer der europäischen Automobilbranche, die vor tiefgreifenden Veränderungen steht. Fällt die Region wirtschaftlich zurück, würde das Österreich spüren.

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Für Polen bedeutet die Energiewende eine riesige Kraftanstrengung.
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"Die zentral- und osteuropäischen Länder brauchen einen möglichst großen Spielraum, um die Wende zu schaffen", sagt Grieveson. Beispiel Energiewende in Polen: Ein Ausstieg aus Kohle bedeute nicht nur Investitionen in neue Energien, sondern habe große Auswirkungen etwa auf den Arbeitsmarkt und auf die Energiepreise. Es sei wichtig, dass die EU-Stabilitätsregeln genügend Flexibilität geben, um alle Herausforderungen zu meistern – selbst wenn viele osteuropäische Länder in der Vergangenheit konservative Haushaltspolitik gemacht und vergleichsweise moderate Schuldenquoten aufweisen. Freilich gibt es etwa mit Tschechien und der Slowakei auch osteuropäische Staaten, die sich für weiterhin strenge Schuldenregeln aussprechen.

Zuschüsse statt Schulden?

Verfechter des Stabilitätspakts können einwenden, dass Infrastrukturprojekte statt mit Schulden durch europäische Zuschüsse finanziert werden können. Dann könnten die Defizite im vorgegebenen Rahmen bleiben. Dafür spricht, dass der europäische Wiederaufbaufonds zwar gedacht war, um Corona-gebeutelten Staaten wieder auf die Beine zu helfen. In Wahrheit aber geht das Gros der Gelder – gemessen am jeweiligen BIP – nicht in die am stärksten von der Pandemie getroffenen Mitgliedsstaaten, sondern in strukturschwächere Länder. Allerdings hat die Vergangenheit auch gezeigt, dass ärmere EU-Länder sich damit schwertun, alle ihnen zustehenden Gelder auch wirklich anzuzapfen.

Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) im Konzert der frugalen Länder. Wäre es nach Österreich, den Niederlande, Dänemark, Schweden und Finnland gegangen, würde der EU-Aufbaufonds weniger Zuschüsse und mehr Kredite vorsehen.
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In der mitunter emotional geführten öffentlichen Schuldendebatte geht es aber meist nicht um Osteuropa, sondern um hoch verschuldete Staaten in Südeuropa – also vor allem um Griechenland, Italien, Portugal und Spanien. Dort seien Zuschüsse auch keine sinnvolle Alternative zu Neuverschuldung, erklärt Ökonom Göttert. Wenn andere Mitgliedsstaaten etwa für Italiens oder Griechenlands Investitionen einspringen, werde womöglich die europäische Solidarität überstrapaziert. "Man muss schauen, dass hoch verschuldete Staaten stärker wachsen", sagt der Experte.

Die Tatsache, dass es für manche dieser Länder in den kommenden Jahren kaum möglich sein dürfte, ihre Schuldenquote ohne große wirtschaftliche und politische Verwerfungen in Richtung Vorgabe des Stabilitätspakts zu bewegen, bedeute nicht, dass die Regeln schlecht sind, sagt Göttert. Vielmehr bedeute das, dass EU-Länder viel früher mit dem Schuldenabbau beginnen müssen – um nicht in dieselbe Situation zu kommen. (Aloysius Widmann, 26.10.2021)