Eindrucksvolle Bilder von Kälte und Repression.

Staatsoper

Kirill Serebrennikov hat vom erzwungenen Moskauer Homeoffice aus an der Bayerischen Staatsoper Regie geführt. Dass er nicht vor Ort arbeiten konnte, hat mal nichts mit den Einschränkungen wegen der Pandemiebekämpfung zu tun.

Wie man weiß, hat es eher mit der Bekämpfung oppositioneller "Infektionen" zu tun, vor denen sich das Regime des russischen Präsidenten schützen will. Im Land darf sich der aufmüpfige Theatermacher und Regisseur wieder frei bewegen, sogar fürs Ausland arbeiten. Dorthin fahren darf er vorerst aber nicht.

In seinem Fall beschränkt sich die immer schnell proklamierte Solidarität nicht auf verbale Bekundungen: Man gibt ihm Arbeit, er macht Filme, schreibt Stücke, die aufgeführt werden. Und er inszeniert Oper – vor einiger Zeit an der Wiener Staatsoper einen hochpolitischen "Parsifal".

Schostakowitschs groteske "Nase"

Dass Nikolaus Bachlers Nachfolger an der Spitze des Münchner Nobelopernhauses Serge Dorny und sein neuer Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski die Spielzeit mit Dmitri Schostakowitschs 1930 uraufgeführter Jugendoper "Die Nase" eröffnen, ist in jedem Fall ebenfalls ambitioniert. Dass sie dafür Serebrennikov engagiert haben, ist zudem eine noble Entscheidung, mit Chancen auf künstlerischen Mehrwert: Die russische Binnenperspektive wirkt ja per se erhellend, wenn ein Stück auf die Bühne kommt, in dem das zaristische und stalinistische Erbe durchscheint, das im Russland Putins fortwirkt.

Russische Kälte

Hier geschieht das auf dem Umweg einer Verdüsterung und nicht mit der Kraft einer überhöhten Groteske. In München verströmt die Bühne (bei der dem Regisseur und Ausstatter ein Team um Co-Regisseur Evgeny Kulagin zur Seite stand) buchstäbliche russische Kälte und metaphorische Tristesse.

Ein grauer Innen-und Außenraum verwandelt sich im Handumdrehen für jede der 16 Szenen: Mal fährt die Polizeistation samt vergitterter Zelle herein, in der geprügelt wird und in der den Arretierten mit Vorliebe die Nase abgeschnitten wird. Mal wird von einer riesigen Zauberhand die Silhouette von St. Petersburg an die Wand gemalt. Dann wieder werden beim Eisangeln Leichenteile aus der zugefrorenen Newa gezogen.

Zum Handwerkszeug der Polizei (die ihre Uniformjacken offensichtlich aus deutschen Beständen übernommen hat) gehören neben ihren Knüppeln und Schutzschilden jede Menge Absperrgitter. Bei der Suche nach der berühmten Nase Kovaljovs und deren öffentlichen Auftritten als Staatsrat kommt es nämlich zu Demonstrationen. Videoeinblendungen lassen keinen Zweifel daran, dass das heutige Russland gemeint ist.

Zurück ins Gesicht

Es gibt eindrucksvolle Bilder: Wenn es laut wird, wenn die neun Schlagzeuger die Melancholie durchbrechen, rollt das szenisch wie schweres Gerät (zum Schnee- und Demonstrantenräumen) mit aufgeblendeten Scheinwerfern auf die Rampe zu. Zum Schluss wird es aber unendlich traurig. Während Kovaljov die Rückkehr seiner Nase in sein Gesicht ausgiebig begossen hat, sieht man im Fenster einer Plattenbaufassade, wie sich gerade jemand erhängt. Den letzten Ton des Abends liefert das Platzen des roten Luftballons eines Mädchens, den man gerne für ein Zeichen der Hoffnung gehalten hätte.

Viel wird vernebelt

So erfahrungsgesättigt authentisch das auch wirken mag – zum Problem wird nicht das personifizierte Eigenleben der einen titelgebenden Nase, sondern die vielen Riechorgane, die hier jeder als Statussymbol im Gesicht trägt. So wie die Nasenlosigkeit im Saal nervt (brav maskierte Zuseher), so wirkt die Vielnasigkeit der Massen auf der Bühne vor allem wie eine Verunstaltung, die mehr vernebelt, als aufklärt.

Sich und den Figuren erkennbares Profil zu verleihen, dazu bedurfte es schon so eindrucksvoller Darsteller wie Boris Pinkhasovich als Kovaljov, Sergei Leiferkus als Ivan oder Doris Soffel als Alter Dame. Abgesehen von der Leistung, das Riesenensemble zu koordinieren, führt sich Musikchef Vladimir Jurowski in München als Dirigent ein, der dort, wo man groteske Übersteigerung vermutet, auch mit sehr verhaltener Melancholie, Abgründen nachzuspüren vermag. (Joachim Lange, 25.10.2021)