Eigentlich hat das US-Auslieferungsbegehren bereits eine Abfuhr bekommen – doch weil die USA in Berufung gingen, kämpft Julian Assange immer noch dagegen an.

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Der in London inhaftierte Wikileaks-Gründer Julian Assange würde bei einer Auslieferung in die USA wahrscheinlich auf Lebenszeit in einem Hochsicherheitsgefängnis landen – und zwar in strengster Isolationshaft. Dabei würde sich seine psychische Gesundheit so sehr verschlechtern, dass der unter Depressionen leidende 50-Jährige versuchen könnte, Suizid zu begehen. US-Strafvollzugsanstalten seien zudem nicht ausreichend darauf ausgelegt, Suizidgefahr bei Häftlingen zu minimieren.

Mit dieser Begründung hatte eine Richterin im Jänner das US-Auslieferungsbegehren für Assange abgelehnt. Denn dorthin, wo Haftbedingungen für psychisch Erkrankte "repressiv" und unmenschlich werden, darf nach britischem Recht nicht ausgeliefert werden.

Die US-Anwälte hatten erzürnt auf das Urteil reagiert und sofort Berufung angemeldet, weswegen Assange immer noch in U-Haft sitzt. An diesem Mittwoch beginnt in London das Berufungsverfahren und somit der zweite Versuch der USA, Assange ausliefern zu lassen: An zwei Tagen dürfen US-Rechtsvertreter vor dem High Court ihre Argumente gegen den Richterspruch vom Jänner vortragen.

Umstrittene Garantien

Sie werden versuchen zu zeigen, dass die Sorgen hinsichtlich einer Verschlechterung von Assanges Gesundheitszustand in US-Haft unberechtigt sind beziehungsweise in erster Instanz überbewertet wurden. Einerseits ziehen die Anwälte dazu die Unabhängigkeit eines Experten, der Assanges Gesundheitszustand beurteilt hatte, in Zweifel. Dieser hatte die Beziehung von Assange mit der Anwältin Stella Moris während dessen Exil in der ecuadorianischen Botschaft und die beiden Kinder des Paares in einem ersten Gutachten verschwiegen und so seine Glaubwürdigkeit verspielt, argumentiert die US-Seite. Auch die Einschätzung, dass Assange suizidgefährdet sei, müsse überprüft werden. Die amerikanischen Anwälte meinen zudem, Garantien dafür präsentieren zu können, dass Assange in den USA nicht übermäßig harten Haftbedingungen ausgesetzt werden würde.

"Liefert Assange nicht aus", forderten hunderte Demonstranten am Samstag in London – in der erste Reihe seine Partnerin Stella Moris und Wikileaks-Chef Kristinn Hrafnsson.
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Assanges Anwaltsteam wird versuchen dagegenzuhalten. Dass die USA etwa milde Haftbedingungen zusichern wollen, gleicht für einen seiner Anwälte, Aitor Martínez, einer Farce. "Die USA sind Spezialisten darin, gegen solche Garantien zu verstoßen", sagt er dem STANDARD. Auch wenn das US-Justizministerium eine schonende Behandlung verspricht, müsse sich kein Richter daran halten.

Beschattung in Botschaft Ecuadors

Martínez vertritt Assange auch in Spanien. Dort hat sich in den vergangenen Jahren ein wenig beachteter Nebenschauplatz der Causa aufgetan. Der Ex-Chef einer Sicherheitsfirma steht seit 2020 in Madrid vor Gericht, weil diese Assange in der ecuadorianischen Botschaft in London für den US-Geheimdienst CIA ausspioniert haben soll. Das Medium "Yahoo News" berichtete kürzlich unter Berufung auf mehrere CIA-Beamte gar von Entführungs- und Mordplänen in Bezug auf Assange, der sieben Jahre in der Botschaft verbrachte.

Zur Erinnerung: Assange war 2012 in die Botschaft geflohen, um sich seiner Auslieferung nach Schweden zu widersetzen, wo er zu – inzwischen zurückgezogenen – Vorwürfen der sexuellen Belästigung befragt werden sollte. Assange befürchtete, von Schweden weiter in die USA ausgeliefert zu werden.

Während die USA und Großbritannien ihm vorwarfen, sich im Exil dem Gesetz zu entziehen, befand ein Uno-Ausschuss, dass Assange seit 2012 seiner Freiheit beraubt wird – weil ihm kein fairer Prozess gemacht werde. Als er nach einem Machtwechsel in Ecuador sein Asyl in der Botschaft verlor, wurde er trotzdem in London verhaftet – erst, weil er sich den Behörden 2012 widersetzt hatte, und dann, weil die USA seiner habhaft werden wollten.

Der Anwalt Aitor Martínez vertritt Julian Assange in Spanien, einem Nebenschauplatz der Causa.
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Seit 2019 sitzt er nun ohne Verurteilung in Isolationshaft, was ihn "physisch und psychisch gebrochen" hat, sagt Martínez. Für ihn ist "undenkbar, dass ein Rechtsstaat wie Großbritannien Assange an eine Jurisdiktion ausliefert, die seine Ermordung plante". Das wäre ein "brutaler Präzedenzfall".

Vorwurf der Spionage

Assange ist der erste Herausgeber, dem unter dem Spionageakt der Prozess gemacht werden soll. Ihm drohen bei einer Verurteilung bis zu 175 Jahre Haft. Konkret vorgeworfen wird ihm, mit der Whistleblowerin Chelsea Manning geheimes Material über US-Militäreinsätze im Irak und in Afghanistan gestohlen und mit seinen Veröffentlichungen US-Informanten gefährdet zu haben. Assange weist die Darstellung zurück: Er habe Inhalte, etwa Indizien über mutmaßliche US-Kriegsverbrechen, lediglich im Sinne der Pressefreiheit veröffentlicht.

Künftig könnte es auch andere treffen, die Informationen im öffentlichen Interesse publizieren, warnt die Londoner Vertreterin von Reporter ohne Grenzen, Rebecca Vincent, im STANDARD-Gespräch. Sie ist enttäuscht, dass die britische Justiz die Auslieferung lediglich aus Gesundheitsgründen ablehnte, und befürchtet, dass Assange noch lange hinter Gittern bleiben muss.

Wochenlanges Warten

Erwartet wird, dass der Berufungsrichter erst in einigen Wochen sein Urteil kundtut. Und egal wie er sich entscheidet: Die Verliererseite dürfte das Urteil anfechten – diesmal beim Obersten Gerichtshof. Assange wird allem Anschein nach in U-Haft bleiben müssen, denn laut Gericht hat er Grund zur Flucht. Vincent fordert, dass die US-Justiz die Anklage fallenlässt. Doch das gilt als äußerst unwahrscheinlich. Daran hat auch der Machtwechsel im Weißen Haus hin zu Joe Biden nichts geändert. (Flora Mory, Elisa Tomaselli, 27.10.2021)