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Trauer ist kein permanentes Gefühl. Es ist eher wie Ebbe und Flut, kommt und geht.

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Drei Varianten hat Valentina S.* erlebt, wie andere auf den Tod ihres Vaters reagiert haben: intensive Beileidsbekundungen mit dem Angebot, sich jederzeit zu melden, wenn man Unterstützung oder Beistand brauche. Eventuell folgte dann noch ein Anruf, aber eine Woche später war es so, als ob der Vater nie gestorben wäre. Andere haben nach einem Moment der peinlichen Betroffenheit das Thema totgeschwiegen.

"Und dann gab es ein paar wenige, die einfach da waren. Die haben gar nicht groß geredet, aber ich habe gespürt, sie verstehen, dass es mich innerlich zerreißt. Die haben angerufen und gefragt. Und selbst wenn ich nichts gesagt oder sie abgewehrt habe, haben sie sich wieder gemeldet. Und wieder. Und wieder. Ohne Erwartungen, einfach nur, weil sie gewusst haben, dass so ein Verlust Zeit braucht. Weil man da selbst oft nicht weiß, wo man gerade steht oder wie es einem geht. Und weil sie wussten, mein Verhalten hat nichts mit ihnen zu tun."

Valentina S. war 28, als ihr Vater kurz vor der Corona-Pandemie an Krebs verstorben ist. Er war knapp 60 – für heutige Begriffe eigentlich zu jung zum Sterben. Die drei von ihr erlebten Reaktionsmöglichkeiten bilden recht gut ab, was einem in so einem Fall begegnet. Denn der Tod ist in unserer Gesellschaft ein großes Tabuthema. Und daran hat auch Corona nichts geändert.

Gefühl der Ohnmacht

"Der Tod ist, wenn er tatsächlich eintritt und auch wenn er zu erwarten war, etwas absolut Überraschendes, und das macht Angst. Natürlich wissen wir, dass wir irgendwann sterben. Aber dieses Irgendwann ist so undefiniert, es bedeutet auch, nie zu sterben, und ist deshalb nicht so beängstigend", weiß Monika Spiegel, Psychotherapeutin und Lektorin an der Sigmund-Freud-Privatuniversität in Wien. "Stirbt ein Mensch tatsächlich, sind die Hinterbliebenen machtlos. Und dieses Gefühl der Ohnmacht müssen sie erst einmal verarbeiten."

Mit Corona, sollte man annehmen, hat sich das geändert und das Thema ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Immerhin sterben aktuell deshalb täglich im Schnitt zwischen zehn und 20 Menschen. All diese Todesfälle zusammengezählt ergeben pro Monat mehr Tote als bei einem Flugzeugabsturz. Tatsächlich lösen diese Zahlen aber kein Betroffenheitsgefühl mehr aus, im Gegenteil. Man hat vielmehr den Eindruck, die Menschen wollen gar nicht mehr damit konfrontiert werden. Und das ist sogar normal.

Narzisstische Kränkung

Der Tod löst negativ assoziierte Gefühle aus, man empfindet Angst, Verzweiflung, Machtlosigkeit. Vor solchen Emotionen will man sich aber schützen, also verdrängt man sie. Dazu kommt, dass wir in einer selbstbestimmten und optimierten Gesellschaft leben, der Tod ist wie eine narzisstische Kränkung, erzählt die ehrenamtliche Trauerbegleiterin Stefanie Jacoba: "Menschen in einer Leistungsgesellschaft wie der unseren sind manchmal fast beleidigt, wenn sie zum Beispiel Krebs bekommen. Sie fragen sich, was sie falsch gemacht haben. Denn das muss so sein. Hätte man immer alles richtig gemacht, wäre man ja nicht krank geworden."

Das gilt übrigens auch für eine Covid-Erkrankung. Vor allem junge Menschen glauben oft, dass sie diese Krankheit sicher nicht niederstrecken kann, so etwas passiert nur den anderen. Die Folge: Wir haben als Gesellschaft in der Pandemie nichts über den Umgang mit dem Sterben gelernt, sagt Spiegel: "Wir wollen nicht an die eigene Endlichkeit erinnert werden, deshalb lassen sich viele nicht auf das Thema ein, dass der Tod einfach zum Leben dazugehört."

Und gerade beim Corona-Thema kommt eine gewisse Übersättigung dazu, wie Spiegel auch in ihrer psychotherapeutischen Praxis feststellt: "Corona ist nicht mehr so ein großes Thema, es ist zur neuen Normalität geworden, insofern ist wieder 'alles beim Alten'. Durch die inzwischen für alle verfügbare Impfung ist die Möglichkeit, an Covid zu sterben, gefühlt auch zum individuellen Risiko geworden. Es ist die eigene Entscheidung, ob man sich impfen lässt oder eben nicht – und damit auch das – abstrakte – Risiko in Kauf nimmt, an einer Infektion zu sterben."

Seit 1995 werden schwer Erkrankte im Hospiz Rennweg betreut und auf ihrem letzten Weg begleitet. Wir haben vor Ort mit Menschen gesprochen, über den Umgang mit ihrer Krankheit, über den Tod und ihr bisheriges Leben.
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Neues Tabu

Dabei ist diese Verdrängung des Todes ein recht junges Thema. Früher war die eigene Endlichkeit allein dadurch allgegenwärtig, dass die Menschen im Schnitt früher und fast immer zu Hause gestorben sind. Es war sogar ein großes Tabu, ältere Menschen in Pflege zu geben, es war selbstverständlich, dass die Nachkommen – und da fast immer die Frauen – die Älteren versorgen.

Heute sterben die Menschen in einem viel fortgeschritteneren Alter, man empfindet es als "normal", sie haben ja – im Idealfall – ein erfülltes Leben gelebt. Dazu kommt, dass die meisten nicht zu Hause sterben, sondern im Heim, im Krankenhaus oder auf einer Palliativstation. "Wir sperren unsere Alten, Kranken als Gesellschaft regelrecht weg. Dabei gibt es nichts Schlimmeres für alte Menschen, als irgendwo allein im Krankenhaus sterben zu müssen", betont Spiegel.

Das war in Vor-Corona-Zeiten schon so, hat sich durch die Pandemie aber noch verschlimmert: "Die Menschen waren im Krankenhaus, im Heim, und man durfte sie nicht besuchen. Die Angehörigen konnten sich nicht verabschieden, aber auch die Sterbenden waren völlig isoliert. Dieses Wissen hat den Abschied natürlich nicht erleichtert."

Und es kommt noch eine zweite Dimension dazu. "Man trennt da sehr stark. Die einen sterben an Corona, die anderen an Krebs. Es wird behandelt, als ob es zwei völlig verschiedene Themen wären", erklärt Jacoba. Am prinzipiellen Zugang zu dem Thema hat das aber nichts geändert – man will sich damit nicht auseinandersetzen.

All das führt dazu, dass die Beschäftigung mit der eigenen Endlichkeit in immer weitere Ferne rückt. Das tut aber nicht gut, denn man ist nicht vorbereitet – gar nicht. Jacoba zeichnet ein klares Bild dafür: "Wenn man auf Reisen geht, gibt es die Menschen, die den Koffer schon eine Woche vor Abflug packen. Es gibt die, die am Vorabend ganz schnell alles zusammensuchen. Aber niemand packt, wenn das Boarding schon begonnen hat. Genau diesen Zugang haben aber viele zum Sterben und sind dann natürlich überfordert."

Diese Erfahrung hat auch Valentina S. gemacht, auch wenn sie ihren Vater schon vor Corona verloren hat: "Ich hatte oft das Gefühl, dass die Menschen einfach nicht wussten, wie sie mit mir umgehen sollen, welche Reaktion angemessen ist. Und viele haben, aus Angst, etwas Falsches zu sagen, gar nichts gesagt."

Furchtbares Schweigen

Das war aber das Allerschlimmste für die junge Frau: "Mir war eigentlich egal, was man zu mir sagt, ob es von Herzen gekommen ist oder eine gesellschaftliche Trauerfloskel war. Aber ich hatte dadurch das Gefühl, in meiner Trauer gesehen zu werden. Tatsächlich habe ich mit einer früher sehr guten Freundin fast keinen Kontakt mehr, weil sie meinen Verlust einfach totgeschwiegen hat. Ich weiß heute, dass sie einfach überfordert war damit. Aber ich hätte besser damit umgehen können, wenn sie gesagt hätte, dass sie genauso überfordert ist, wie ich es war."

Tatsächlich hat sich S. von jenen am besten verstanden gefühlt, die selbst schon eine ähnliche Erfahrung durchgemacht hatten. Eine alte Schulfreundin etwa, zu der der Kontakt seit Jahren abgebrochen war, hatte sich gemeldet, weil auch sie früh einen Elternteil verloren hatte. "Natürlich konnte sie mir meinen Schmerz nicht nehmen. Aber ich habe auf einmal gemerkt, dass ich nicht die Einzige bin, die so etwas erleben musste."

Wichtige Trauer

Dabei ist es unendlich wichtig, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen – als Individuum und als Gesellschaft. Spiegel erklärt: "Man könnte sagen, es braucht einen gesunden Zugang zum Tod. Das bedeutet, dass man seiner Trauer Raum gibt. Wenn man all die Emotionen, die da kommen – Wut, Traurigkeit, Hilflosigkeit, Ohnmacht –, zulässt und sich mit diesen Gefühlen auseinandersetzt, gibt man sich selbst die Chance, weiterzugehen im Leben, nicht in einem Zustand der Trauer stecken zu blieben."

Das braucht natürlich Zeit, weiß Jacoba: "Trauern ist kein Wochenendkurs, den man in drei Tagen absolviert und dann ist das Thema abgehakt. Es ist eher wie Ebbe und Flut, es kommt und geht. Das kann Monate, aber auch Jahre dauern. Manche werden ungeduldig mit sich selbst – oder auch die Menschen rundherum wollen nichts mehr davon hören. Das ist aber nicht okay. Viel besser ist es, sich diese Zeit zu geben, liebevoll mit sich selbst umzugehen. Dann kann das Leben auch weitergehen."

Denn das Leben geht weiter nach dem Verlust eines geliebten Menschen, betont Psychotherapeutin Spiegel: "Natürlich wird es anders, gleich kann es ja nicht mehr sein. Aber nur wenn ich mich mit dem Verlust auseinandersetze, kann ich dieses Anders so gestalten, dass es für mich auch gut ist."

Dabei können etablierte Trauer- und Verabschiedungsrituale helfen. Diese sind sehr oft religiös geprägt, was für jene Menschen, die keiner Kirche angehören, eine Hürde sein kann. Aber es geht gar nicht darum, sich in einer bestimmten, ritualisierten Form dem Verlust und dem Bewusstsein der eigenen Endlichkeit zu stellen. Wichtig ist, dass man es tut, dass man diese Gefühle zulässt.

Da kann auch therapeutische Unterstützung guttun, wie Monika Spiegel betont: "Ich begleite immer wieder Menschen im Trauerprozess. Das ist keine Therapie im klassischen Sinn, es geht darum, noch einmal gehalten zu werden, Verständnis zu bekommen und das Gefühl zu haben, jemand hört zu." Akute Trauer kann nach außen sogar die gleichen Symptome wie eine Depression haben. "Das ist aber nicht das Gleiche, Trauer ist keine Erkrankung." Setzt man sich nicht damit auseinander, kann Trauer jedoch zu einer Depression werden.

Bewusstes Erleben

Und was kann man als Unbeteiligter tun, als Freund und Mitmensch einer trauernden Person? Da raten beide Expertinnen, einfach da zu sein: "Es braucht gar keine tröstenden Worte, die sind oft wenig hilfreich. Viel besser ist es zu fragen, wie es dem oder der Trauernden geht, einfach auszuhalten, was da kommt." Und zuzuhören. Immer wieder. Auch wenn eine Geschichte schon hundertmal erzählt wurde. Schafft man das, kann man auch dieser Ohnmacht, die mit dem Tod einhergeht, etwas entgegensetzen.

Das war auch für Valentina S. der Schlüssel: "Ich habe einfach das Recht für mich in Anspruch genommen, immer über meine Emotionen zu reden, wenn mir danach war. Und es gab ein paar Menschen, die wirklich für mich da waren. Irgendwann ist dieses Gefühl eines riesigen Lochs weniger geworden. Und ich habe auch daraus gelernt. Ich lebe viel bewusster, erfreue mich an kleinen Dingen. Natürlich ärgere ich mich auch oder bin traurig. Das gehört ja dazu. Das klingt so banal, aber das macht das Leben doch aus. Ich möchte, wenn ich irgendwann selbst sterbe, ein erfülltes Leben gehabt haben. Und das geht nur, wenn ich mich auf das Leben einlasse und alles spüre, was dazugehört." (Pia Kruckenhauser, 1.11.2021)