"Wer ist Wir?" lautet das Thema eines demnächst stattfindenden Redewettbewerbs für Schüler, bei dem jede Rede halb auf Deutsch und halb in einer anderen Sprache gehalten werden muss. Die darin verborgene Botschaft lautet natürlich: Mehrsprachigkeit ist eine Stärke, keine Schwäche. Und ferner: Menschen, die anderswo geboren sind und eine andere Muttersprache haben, gehören auch zum Wir. Diversität und Vielfalt sind seit Jahrhunderten Teil der österreichischen Identität.

Die Wiener Magistratsabteilung 35.
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Der Wettbewerb wird von einer NGO organisiert. Die offizielle Linie in Österreich sieht freilich anders aus. "Wir" sind die Einheimischen, und wer dazugehören will, muss einen kaum zu bewältigenden Spießrutenlauf hinter sich bringen, an dessen Ende – vielleicht, vielleicht aber auch nicht – ein österreichischer Pass stehen könnte. Wie das konkret aussieht, hat vor kurzem der Skandal um die für Einwanderung und Staatsbürgerschaft zuständige Wiener Magistratsabteilung 35 geoffenbart: scheinbar endlose Wartezeiten, bürokratische Schikanen, ein unfreundlicher Umgangston.

Das ist ungewöhnlich, weil die Wiener Verwaltung im Allgemeinen einen guten Ruf genießt. Wieso also diese Mischung aus unzureichenden Ressourcen, Inkompetenz und Böswilligkeit ausgerechnet in diesem Ressort? Die 35er war schon immer eine Strafabteilung, sagt ein erfahrener Beamter. Der Politologe und Staatsbürgerschaftsspezialist Rainer Bauböck nennt den Grund: weil diese Abteilung mit Klienten zu tun hat, die nicht wahlberechtigt sind. Wer nicht wählen darf, ist für die politischen Parteien wertlos. Hier trifft auch die in Wien dominierende SPÖ eine schwere Verantwortung.

Ausgrenzung und Quälerei

Inzwischen mehren sich in der Zivilgesellschaft die Stimmen, die in diesem Bereich Reformen verlangen. Neue Einwanderung ist unpopulär. Aber Ausgrenzung und Quälerei von Menschen, die seit Jahren hier leben, die hier arbeiten und die im Lande dringend gebraucht werden, treffen auch in der Öffentlichkeit immer stärker auf Kritik. Für die Neos, neuerdings in Wien zuständig für Einbürgerung, ist das eine Chance. Für die Grünen im Bund wäre es auch eine, wenn sie sich dazu entschlössen.

Fast jeder fünfte in Österreich lebende Bürger ist nicht wahlberechtigt. Mehr als ein Drittel der Wiener sind im Ausland geboren. Mehr als die Hälfte aller Wiener Schüler haben eine andere Muttersprache als Deutsch. Arbeiter und Pflegekräfte sind mehrheitlich Migranten, aber auch unter Musikern, Künstlern, Freischaffenden stößt man immer öfter auf fremdländische Namen. Trotzdem hat Österreich eines der restriktivsten Einbürgerungsgesetze in Europa und kennt natürlich auch das in vielen Ländern geltende Ius soli (Staatsbürgerschaft für alle im Lande Geborenen) nicht, ebenso wenig den Grundsatz "no taxation without representation". Man kann hier ein Leben lang zu Hause sein und Steuern zahlen und trotzdem ein "Fremder" bleiben. Experten sprechen in diesem Zusammenhang von einer "Aushöhlung der Demokratie".

"Wer ist Wir?" – Wirklich nur die "echten Österreicher"? Gehören der Handwerker, der unsere Geräte repariert, die Pflegerin, die auf die Oma schaut, der Gemüsehändler an der Ecke, der Professor an der Uni nicht zu "uns"? Es sieht so aus, als sei die Gesellschaft hier weiter als die Politik. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 28.10.2021)