Sein Werk ist so umfangreich, dass es niemand überblickt. Seine Zeichnungen hat Paul Flora nicht nummeriert, ein Verzeichnis existiert bloß von seinen illustrierten Büchern. Selbst am Tag seines Todes im Mai 2009 soll Flora noch an einer Zeichnung gearbeitet haben. Das erste Blatt datiert dagegen aus dem Jahr 1936: Der 14-Jährige skizzierte zwei knorrige Bäume am Ufer des Mississippi.

Vieles von dem, womit es Flora nach dem Krieg bald in die heimischen Wohnzimmer geschafft hat, ist auf diesem Blatt bereits angelegt: Der breite Strom besteht aus einigen wenigen Pinselstrichen, die blätterlosen Äste aus filigranen Linien – und natürlich ist die Zeichnung ganz in Schwarz-Weiß gehalten.

Paul Flora war ein Meister der Reduktion – und ein ebenso feinnerviger wie zutiefst humoriger Chronist seiner Zeit. Gepaart mit einem nie versiegenden Drang, zur Feder zu greifen, stieg er bald zu einem der beliebtesten Zeichner nicht nur Österreichs auf. Mit der Darstellung seiner fein gestrichelten Raben oder knarzigen Tiroler sind hierzulande viele aufgewachsen. Ein halbes Jahr vor Floras 100. Geburtstag, der im Mai kommenden Jahres ansteht, richtet die Wiener Albertina eine Retrospektive mit den wichtigsten Zeichnungen des Künstlers aus.

Karikaturen in Krems

Eine Ausstellung mit Floras Karikaturen gibt es dagegen im kommenden Jahr im Karikaturmuseum Krems zu sehen. Über 3500 Karikaturen hat Flora zwischen 1957 und 1971 allein für die Hamburger Zeit angefertigt – und das, obwohl er sich nie als Karikaturist, sondern als Zeichner verstanden hat.

Wie zeitgenössisch wirken die Zeichnungen Floras aber noch? Eine klare Antwort wird man auch nach der Betrachtung der über 100 Werke, mit denen die Albertina aus eigenen Beständen und aus Leihgaben aus dem Nachlass und dem Besitz der Familie die Schau bestückt hat, nicht finden. Flora widersetzte sich dem Zeitgeist, so etwas wie Moden interessierten ihn schlichtweg nicht.

"Einige Tiger" von 1954.
Foto: Albertina, Wien

Es waren die Künstler der klassischen Moderne wie Lyonel Feininger oder Paul Klee, die den Blick des Künstlers geprägt haben – und natürlich Alfred Kubin. Als er das erste Mal in dessen dunkle, verschroben-unheimliche Welt eintauchte, tat sich für ihn ein völlig neuer Kosmos auf. Einer, dem Flora zeit seines Lebens treu bleiben sollte.

Kaum ein Bild des im Südtiroler Ministädtchen Glurns geborenen Künstlers, in dem sich nicht ein kleiner Abgrund auftun würde. Schiffe oder Schlösser zeichnet Flora am liebsten in bedrohlicher Schieflage, die Nacht ist präsenter als der Tag, Bäume sind blätterlos, Ratten huschen durch die verwinkelten Gassen des von Flora so heißgeliebten und immer wieder aufs Papier gebrachten Venedig.

Gerade in der Darstellung der Lagunenstadt sind die Pole von Floras Schaffen schön erkennbar: Da ist zum einen die beklemmend düstere Seite der Stelzenstadt samt Raben oder Ratten, zum anderen die Stadt, die von ausgelassenen Maskenträgern geprägt ist. Wobei selbst das Karnevalstreiben bei Flora Anlass zur Sorge gibt. Humor oder Leichtigkeit ist bei dem Künstler, der überwiegend auf der Innsbrucker Hungerburg gelebt hat, nie ohne einen Schuss Schwermut zu bekommen.

Schützen als Originale

So etwas wie Bösartigkeit ist Flora dagegen fremd. Selbst in seinen Karikaturen blitzt der Menschenfreund durch, auch der dumpfeste Tiroler Schütze ist bei Flora ein Original. Das erklärt natürlich zu einem gewissen Teil den langanhaltenden Erfolg des Zeichners, der der Kirche genauso wie Tiroler Eigenheiten, oder sagen wir Traditionen, reserviert gegenüberstand. Statt mit beißender Kritik begegnete er diesen mit subtilem Humor.

"Drei Pestärzte und ein Rabe" von 1986
Foto: Albertina, Wien

Letzterer zieht sich auch durch die von Antonia Hoerschelmann kuratierte Ausstellung. Sie zeichnet das Schaffen Floras chronologisch nach, von den Tuschezeichnungen der Nachkriegsjahre über die feinere, parallele Linienführung, die in den 1960ern beginnt, bis hin zu den Kolorierungen in späteren Jahren. Floras wichtigste Motive sind präsent, nur die Tiroler-Darstellungen spart man eigenartigerweise aus.

Am modernsten wirkt Flora in jenen Momenten, wo sich Motive auflösen wie in der Darstellung von Torcello oder in den verschobenen Proportionen der letzten Jahre. Selbst die Raben wirken in dieser Phase dunkler, charakterstärker. Zeit, sie neu zu betrachten. Bis 30. 1.

Fein schraffierte Dachlandschaften mit skurrilen Bewohnern sind ein wiederkehrendes Motiv beim Tiroler Zeichner Paul Flora (1922–2009). Diese Zeichnung stammt aus dem Jahr 1976 und nennt sich "Schrebergarten". (Stephan Hilpold, 29.10.2021)