Der Fall Assange ist voll wirrer Wendungen. Fakt ist: Der Aufdecker und Wikileaks-Gründer Julian Assange kämpft seit mehr als einem Jahrzehnt in London für seine Freiheit. Die USA bezichtigen ihn der Spionage und wollen ihm in den USA den Prozess machen. Die britische Justiz hat im Berufungsverfahren mit ihrem Urteil nun den Weg dafür geebnet. DER STANDARD rekonstruiert in zehn Fragen und Antworten, wie es in dieser Causa überhaupt so weit kam und wie es wohl weitergeht.
Frage: Wer ist Julian Assange?
Antwort: Vor etwas mehr als 15 Jahren gründete der Australier Julian Assange jene Enthüllungsplattform, die vielen Regierungen, allen voran den US-amerikanischen, ein Dorn im Auge sein würde: Wikileaks. Darauf werden bis heute Dokumente und Informationen von Whistleblowern veröffentlicht. So übergab etwa die IT-Spezialistin der US-Streitkräfte, Chelsea Manning, 2010 hunderttausende die Irak- und Afghanistankriege betreffende US-Dokumente an Wikileaks – das größte Leck in der US-Militärgeschichte.
Frage: Was deckten Assange und Manning auf?
Antwort: Die geleakten Dokumente offenbarten mutmaßliche Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen der USA im Irak und dass unter den hunderttausenden Kriegsopfern rund 60 Prozent Zivilisten waren. Darunter befand sich auch ein Video von der Bordkamera eines US-amerikanischen Kampfhubschraubers, das später unter dem Titel "Collateral Murder" veröffentlicht werden sollte. Es zeigt die Tötung von verletzten Zivilisten und Journalisten durch US-Soldaten. Die "Gitmo-Files" gaben später Einblick in das System des US-Gefangenenlagers Guantanamo auf Kuba, wo hunderte Afghanen und Pakistaner gefoltert und willkürlich inhaftiert wurden.
Frage: Was passierte nach den Enthüllungen?
Antwort: Manning wurde 2010 wegen der Weitergabe geheimer Dokumente festgenommen und wegen Spionage zu einer Haftstrafe von 35 Jahren verurteilt. 2017 begnadigte sie der scheidende US-Präsident Barack Obama. Eine Notiz am Rande: Im Jahr 2019 wurde Manning erneut inhaftiert, weil sie sich weigerte, über Assange auszusagen. Erst 2020 wurde sie nach einem Suizidversuch aus der Beugehaft entlassen.
Manning ist nur eine von vielen Personen, die seit 2001 wegen Informationsweitergabe mithilfe des Spionagegesetzes verurteilt wurden. Dass der US-Spionageakt heute gegen journalistische Quellen zum Einsatz kommt, ist eines der vielen Vermächtnisse des von den USA proklamierten "Kriegs gegen den Terror" nach 9/11. Gegen Journalisten oder Herausgeber kam der Spionageakt dagegen nie zum Einsatz. Dies stünde zweifelsfrei im Widerspruch zur US-Verfassung, die die Pressefreiheit garantiert. Die Veröffentlichung geheimer Dokumente ist schließlich die Kernaufgabe investigativer Journalisten.
Frage: Gab es für Assange also keine rechtlichen Konsequenzen?
Antwort: Anfangs nicht: Das Justizministerium verfolgte während Obamas Amtszeit zwar insgesamt acht Whistleblower wegen Spionage – mehr als alle Regierungen zuvor. Gegen Assange – der weder Angestellter des US-Staats noch journalistische Quelle war, sondern Publizist der Dokumente – wurde zwar ermittelt, aber die Obama-Regierung kam laut Experten zu dem Schluss, dass eine Anklage die Pressefreiheit gefährden würde und daher nicht möglich sei.
Frage: Warum sitzt Julian Assange dann heute in einer britischen Zelle?
Antwort: Mit der Ära von Präsident Donald Trump änderte sich der Umgang mit Assange: Dazu trugen laut Experten auch maßgeblich die "Vault7"-Enthüllungen im Jahr 2017 bei, die die Spionagepraktiken der CIA offenlegten. Laut spanischen Ermittlungen dürften die US-Geheimdienste zu diesem Zeitpunkt begonnen haben, Assange ins Visier zu nehmen – indem sie mit jener spanischen Sicherheitsfirma kooperierten, die die ecuadorianische Botschaft bewachte. Demnach installierten sie Kameras und Mikrofone im Gebäude, um zu protokollieren, was Assange mit wem machte. Im März 2018 wurde in den USA dann erstmals im Geheimen Anklage ("sealed indictment") gegen Assange erhoben. Veröffentlicht wurde sie aber erst am 11. April 2019, an jenem Tag, an dem Assange die ecuadorianische Botschaft in London verlassen musste und an Ort und Stelle verhaftet wurde.
Frage: Warum wurde er verhaftet?
Antwort: Assange hatte 2012 gegen britisches Recht verstoßen, indem er in London in die ecuadorianische Botschaft flüchtete. Am Anfang war ihm Schweden auf den Fersen. Dort tauchten 2010 Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs zweier Frauen auf. Die schwedischen Staatsanwälte erließen internationalen Haftbefehl.
Assange bot damals an, in der schwedischen Botschaft in London oder der Richterin per Videocall Rede und Antwort zu stehen. Er fürchtete, Schweden würde ihn, wie andere zuvor, den USA übergeben. Doch die schwedische Justiz bestand auf seiner Auslieferung und zog durch alle Instanzen. Als letztlich der britische High Court der Auslieferung zustimmt, flüchtet Assange 2012 in die ecuadorianische Botschaft in London – Ecuador gewährte ihm bis zum Machtwechsel 2019 politisches Asyl.
Die USA und ihre Verbündeten bezichtigten Assange daher der Justizflucht, eine Uno-Expertengruppe stützte hingegen den Wikileaks-Gründer: Weder in Schweden noch in Großbritannien habe Assange einen fairen Prozess bekommen; er sei also willkürlich seiner Freiheit beraubt worden. Dieser Befund wurde von den britischen Behörden ignoriert, wie auch die Tatsache, dass die Vorwürfe aus Schweden zurückgezogen und das Verfahren gegen ihn eingestellt wurde.
Frage: Wie lauten die konkreten Vorwürfe gegen Assange?
Antwort: In den USA wurden insgesamt 18 Anklagepunkte gegen Assange vorbereitet. Der erste betrifft das Hacken eines Regierungscomputers. Demnach soll Assange Manning mutmaßlich geholfen habe, unerkannt in das Regierungssystem einzusteigen. Er sei also nicht nur Herausgeber der Dokumente, sondern auch Komplize gewesen – Assange bestreitet das. Später wurden 17 weitere unter den Spionageakt fallende Anklagepunkte verkündet. Assange ist damit der erste Publizist, dem unter dem Spionageakt der Prozess gemacht werden soll. In Summe drohen ihm 175 Jahre Haft in den USA.
In Großbritannien hätte er seine Strafe jedenfalls verbüßt: Dort wurde er 2019 zu einer Maximalstrafe von 50 Wochen Haft wegen des Verstoßes gegen Kautionsauflagen, als er in die Botschaft flüchtete, verurteilt. Die hat er längst abgesessen. Auf richterliche Anordnung hin muss er aber für die Dauer des US-Auslieferungsverfahrens in Untersuchungshaft bleiben – wegen "erhöhter Fluchtgefahr".
Frage: Aber im Jänner 2021 wurde die Auslieferung doch abgelehnt. Warum war Assange immer noch in Haft?
Antwort: Das stimmt. Bereits im Jänner 2021 hat ein Londoner Gericht seine Auslieferung abgelehnt – mit dem Verweis auf die stark erhöhte Suizidgefahr Assanges, dessen mentale Gesundheit im vergangenen Jahrzehnt nachweislich gelitten hat. Doch die US-Anwälte gingen umgehend in Berufung, woraufhin das Gericht die U-Haft von Assange – erneut wegen Fluchtgefahr – verlängerte.
Auch nach dem Regierungswechsel in Washington im Jänner hin zu Präsident Joe Biden hält das US-Justizministerium an dem Kurs der Trump-Regierung fest. Ende Oktober fand die Berufungsanhörung statt, DER STANDARD berichtete. Die US-Seite argumentierte, die Richterin habe die Suizidgefahr Assanges sowie auch die Härte der Haftbedingungen in den USA überschätzt.
Frage: Was hat nun das Berufungsgericht entschieden?
Antwort: Das Berufungsgericht kippte am 10. Dezember 2021 die Entscheidung der ersten richterlichen Instanz. Somit ebnet Großbritannien nun den Weg, Julian Assange an die USA ausliefern zu lassen. Allerdings dürfte das noch nicht das Ende in der Causa sein: Der Fall wandert nun zurück zum erstinstanzlichen Gericht mit der Weisung, die Entscheidung über die Auslieferung der Innenministerin zu überlassen. Sollte Großbritannien weiterhin an der Auslieferung festhalten, werde sein Anwaltsteam "ehestmöglich" in Berufung gehen, kündigte Assanges Partnerin, Stella Moris, an. Die letzte britische Instanz wäre dann der Supreme Court, der Oberste Gerichtshof.
Ein anderes, wenn auch unwahrscheinliches Szenario: Die USA könnten die Anklage fallenlassen, wie der unabhängige Berichterstatter der Vereinten Nationen für Folter, Nils Melzer, sowie etliche Initiativen und Organisationen zum Schutz der Pressefreiheit und Menschenrechte seit langem fordern.
Frage: Wie argumentierte der Berufungsrichter?
Antwort: Die US-Seite präsentierte dem Berufungsgericht in ihren Worten "ein Paket voller Zusicherungen": keine umstrittenen Haftbedingungen, Verbüßung der Haftstrafe in Australien und "ausreichend medizinische Versorgung". Diese Versprechungen haben dem Richter letztlich genügt: "Es gibt keinen Grund, dass das Gericht diese Zusicherungen nicht akzeptieren sollte", argumentierte der Richter. Die Sorgen um die psychische Gesundheit Assanges sah er aus dem Weg geräumt. (Flora Mory, Elisa Tomaselli, 10.12.2021)