Es sind nicht wenige sexistische Klischees, die Sarkeesian in vielen populären Spielreihen beschrieb.

Foto: Standard/Heribert Corn

Wut, Beschimpfungen, Morddrohungen: Das sind heute Probleme, die uns tagtäglich in sozialen Medien beschäftigen. 2014 waren sie bei weitem noch nicht so verbreitet. Damals im Mittelpunkt des Shitstorms steht die Popkulturkritikerin Anita Sarkeesian.

Was sie gewagt hat: ein Thema anzusprechen, das in der Videospielbranche jahrelang ignoriert geblieben war – die Rolle von Frauen in Games. Sarkeesian zeigte in mehreren Videoessays einer ganzen Dokureihe die unterschiedlichsten Stereotype auf, die die weibliche Rollen in Videospielen prägen. Und es sind nicht wenige: Sarkeesian spricht etwa von Frauenrollen, die lediglich existierten, um dem männlichen Protagonisten ein Motiv für seine Handlungen zu geben – etwa weil die weibliche Figur gerettet werden muss.

Frauen, die vor allem für die Story relevant sind, weil sie ermordet werden. Oder weil sie dem männlichen Spielcharakter als "Belohnung" vorgelegt werden, wenn er bestimmte Aufgaben löst. Frauen, die besonders für den männlichen Spielercharakter "verführerisch" dargestellt werden. Oder Frauen, die schlicht als eine Art "Dekoration" im Hintergrund für männliche Gamer existieren.

Zahlreiche Klischees

Es sind nicht wenige Klischees, die Sarkeesian in vielen populären Spielreihen entdeckt, angefangen bei "Super Mario Bros" über "God of War" bis hin zu Titeln wie "Metal Gear Solid". Akribisch analysiert sie die dahinterstehenden Geschlechterbilder, die vermittelt werden, und zieht Vergleiche zu anderen Medienformen wie Filmen und Serien. Dabei verortet sie innerhalb von Gaming mehr Sexismus als anderswo – was sie auf das junge Alter des Mediums bezieht, wie sie 2018 in einem STANDARD-Interview erläuterte. Die Branche hatte ursprünglich vor allem junge Burschen als Zielgruppe ausgewählt und sich beim Thema Diversität zurückgehalten.

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Was eigentlich der simple Beitrag einer Feministin zu einer popkulturellen Debatte sein könnte, wurde plötzlich das Ziel einer Kampagne, die in ihrem Kern vor allem von Frauenhass befeuert wurde. Denn plötzlich geriet Sarkeesian in den Mittelpunkt einer Bewegung, die sich mehr und mehr zu einer Hassgruppierung entwickelte: Gamergate – so nannte sich die Masse anonymer User im Internet. Sie wollte zunächst Kritik an fehlenden Sorgfaltspflichten im Gaming-Journalismus üben. Ursprünglich war einer Videospieldesignerin unterstellt worden, intime Beziehungen für positive Berichterstattung zu pflegen.

Hasskampagne

Doch statt fehlende Ethik zu thematisieren – wobei auch die ersten Vorwürfe nicht auf sexistische Vorurteile verzichteten –, wurde Gamergate zu einem Mob, der vor allem Hetzkampagnen gegen verschiedenste feministische Akteure im Gaming-Bereich fuhr. Sarkeesian wurde rasch als Ziel identifiziert – und war fortan massivem Hass ausgesetzt.

Gleichzeitig wettert Gamergate gegen Feminismus allgemein und schimpft über "Social Justice Warriors" bzw. "Gutmenschen". Rechte Akteure wie der Journalist Milo Yiannopoulos, die sich später der Bewegung um den ehemaligen US-Präsidenten Trump anschlossen, finden gleichzeitig erstmals eine Plattform (mehr dazu in einem ausführlichen Bericht der "New York Times").

Prügelspiel

Sarkeesian, mit ihrer ganzen Reihe an Videoblogs, die teilweise über 30 Minuten andauern und noch dazu durch Spenden finanziert wurden, gerät in dieser Zeit rasch ins Kreuzfeuer des Hasses. Anonyme User beschimpfen sie massenhaft, immer wieder muss sie Vergewaltigungs- und Morddrohungen lesen. Private Informationen über sie werden öffentlich geteilt.

Mehrfach schicken ihr anonyme Personen retuschierte Bilder, die zeigen, wie sie von Videospielcharakteren vergewaltigt wird. Ein User veröffentlicht ein Spiel namens "Beat Up Anita Sarkeesian", in dem es ausschließlich darum geht, auf ein Foto von ihrem Gesicht zu klicken, sodass ihr zunehmend immer mehr Verletzungen zugefügt werden. Sarkeesian muss in dieser Zeit umziehen, weil sie um ihre Sicherheit bangt. Das FBI beginnt aufgrund des Ausmaßes an Hass zu ermitteln.

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Fehlende Solidarität "beschämend"

Irgendwann ebben die Angriffe ab, und Sarkeesian spricht immer mehr in der Öffentlichkeit von den Auswirkungen von Hass im Netz. Für sie frustrierend: die Person zu sein, die dafür bekannt ist, Gamergate "überlebt" zu haben, sagt sie dem "Guardian" in einem späteren Interview. 2019 reflektiert sie in einem Beitrag bei "Polygon", dass die wahren Ziele von Gamergate sich durch das Verhalten des Mobs offenbart hätten: In dem "expliziten Rassismus, Sexismus und der Transphobie in den Memes, die die Bewegung kreierte", sowie den Beiträgen, die auf den unterschiedlichen Onlineforen geteilt wurden, in denen sich die Akteure organisierten.

"Beschämend" sei die Stille bei den Games-Unternehmen in dieser Zeit, die sich großteils nicht zu der Thematik äußerten. Von Ethik im Spielejournalismus zu sprechen sei zudem verhöhnend, fast lustig, hätte Gamergate nicht "so viel Schaden und bleibende Traumata hinterlassen". 2020 startete Sarkeesian eine eigene Hotline in den USA für Personen in der Gaming-Branche, die Belästigungen, auch online, ausgesetzt sind.

Gamergate "ist alles"

Bis heute wirkt die Relevanz von Gamergate in der Netzkultur nach. In einem reflektierenden Beitrag argumentierte die "New York Times" etwa: "Alles ist Gamergate." Die Bewegung lieferte das ursprüngliche Strategiepapier für gezielte Hasskampagnen. Denn viele der Gamergate-Anhänger organisierten sich über unterschiedlichste Internetforen und planten dort die Angriffe auf ihre Opfer, ähnlich wie es heute extremistische Gruppierungen und Verschwörungserzähler tun. Gleichzeitig war Gamergate beispielhaft dafür, was Hass in sozialen Medien auslösen kann.

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Für viele Videospielhersteller war Gamergate hingegen eine Zäsur. Zwar solidarisierte sich die Industrie nicht mit den Opfern der Bewegung, was vor allem nachträglich kritisiert wurde. Aber: Seitdem ist die Zahl von Spielen mit weiblichen Protagonisten gestiegen, sexistische Stereotype, wie sie Sarkeesian offenbarte, sind zurückgegangen. Doch längst ist der Sexismus in der Branche nicht bewältigt – das zeigt etwa, dass nur drei der 100 bestverdienenden Streamerinnen und Streamer bei der populären Gaming-Plattform Twitch weiblich sind.

Die Erde bebt weiter

Oder aber auch die vielen Belästigungsvorwürfe gegen größere Videospielhersteller, die in den letzten Monaten und Jahren öffentlich wurden. Zuletzt Activision Blizzard: Der Megakonzern ist nämlich mit einer Klage der kalifornischen Bürgerrechtsbehörde California Department of Fair Employment and Housing (DFEH) konfrontiert. Sie wirft Activision Blizzard vor, eine Arbeitskultur konstanter sexueller Belästigung, unfairer Bezahlung weiblicher Mitarbeiterinnen und abfälliger Kommentare zu pflegen und sogar auf Führungsebene dazu zu ermutigen. Was Anita Sarkeesian also ausgelöst hat, ist ein Erdbeben in der Branche – eines, das bis heute nicht abgeklungen ist. (Muzayen Al-Youssef, 29.10.2021)