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Ohne Auslassung sagen, was Sache ist. Ilse Aichinger (1921–2016). Das Foto entstand im Jahr 1973.

Foto: Picturedesk.com / Interfoto / Brigitte Friedrich

"Ich muss nicht schreiben", sagt Ilse Aichinger in einem Gespräch 1996. "Und ich wollte nie Schriftstellerin werden." An anderer Stelle drückt sie es mit noch größerer Verneinung aus: "Es muss gar nichts bleiben." Immerhin, und so weit ist es doch eine existenzielle Verflechtung, habe ihr das Schreiben "ermöglicht, auf der Welt zu bleiben".

Das korrespondiert mit dem oft wiederholten Satz: "Schreiben heißt sterben lernen." Einer von vielen hermetischen Sätzen in Aichingers Werk, dessen Verständnis sie einmal damit andeutete, dass in der Sprache die Wirklichkeit der Existenz liege.

Größere Hoffnung

Ihre Lebensmaxime formulierte sie 1993 im "Fragebogen" der FAZ mit einem Wort aus der Antike: "Vivere non necesse est" (Es ist nicht notwendig zu leben). Das ist umso radikaler, als sie diese Maxime auch auf sich selbst bezog: "Ich halte meine Existenz für völlig unnötig", bekundete sie in einem Interview kurz vor ihrem 82. Geburtstag. Geradezu folgerichtig sprach sie von der Genesis als dem größten Unglück, die menschliche Existenz bezeichnete sie als "Nonsens".

Vor allem die Interviews der letzten Jahre sind von dieser entschiedenen Lebensablehnung geprägt. Das verwundert, wenn man an den Titel ihres ersten und einzigen Romans denkt: Die größere Hoffnung (1948). Im Nachhinein hat sie das so erklärt: dass der Krieg, also die Zeit, die sie als Verfolgung erlebt hat, für sie trotzdem und gerade deswegen die "glücklichste Zeit" war, weil sie da noch alles erhofft hätte.

So beschreibt der Roman ja auch ein geradezu magisches Wirkfeld, in dem verfolgte jüdische Kinder von einem unbeschwerten Leben träumen. "Kinder, mit denen irgend etwas nicht in Ordnung war. (…) Kinder, die fliehen mußten. Keines von ihnen hatte die Erlaubnis zu bleiben und keines von ihnen hatte die Erlaubnis zu gehen."

Das Ausgeschlossensein gibt die biografische Situation der Autorin während der NS-Zeit wieder. Leben und Sterben, meinte Ilse Aichinger einmal, seien damals leichter gewesen, weil alles "deutlich" war und sie selbst eigentlich nicht gedacht habe, "dass wir überleben". (Im Roman hingegen überlebt die Protagonistin Ellen das Ende des Krieges nicht.)

Und gleichzeitig: "Man kann nicht ohne Hoffnung leben." Auch wenn es damals nur eine irrationale Hoffnung war. Danach seien nur noch Illusionen gekommen, denn man hätte nach dem Krieg zu viel erwartet. Später meinte sie: Die Hoffnung von früher wurde durch das Bewusstsein abgelöst, dass es Unlösbarkeiten gibt. Diese Erkenntnis bedeutete auch so etwas wie den Riss in der Geschichte sichtbar machen.

Überleben

Und der ging schmerzlich durch die eigene Familie: 1938 wird Ilse Aichinger und ihrer Zwillingsschwester Helga die Etikette "halbjüdisch", "Mischling ersten Grades" umgehängt. Während Helga mit einem der letzten Kindertransporte 1939 nach England flüchten kann, wird Ilse zum Garanten, dass ihre jüdische Mutter, eine Ärztin, geschützt bleibt, zumindest "bis auf Widerruf".

In Wahrheit: "Man wusste von einem Tag zum andern nicht, wie es weitergeht." Das Leben war so fragil wie fragwürdig, das Überleben eine Hoffnung. Später schrieb Ilse Aichinger den Satz "Man überlebt nicht alles, was man überlebt", denn "man ist das nie los, dieses Gefühl, dass die anderen wegmussten und man zurückgeblieben ist".

"Weg mussten" 1942 die Großmutter und zwei Geschwister der Mutter, sie wurden in einem Waldstück nahe Minsk ermordet. Von der Erinnerung an sie handeln einige der besten Aichingertexte, vor allem die erstmals 1959 erschienene Prosa Kleist, Moos, Fasane (in Buchform 1987), und auch in Gesprächen und vielen ihrer letzten Texte kam Ilse Aichinger immer wieder auf ihre Großmutter zurück, die ihr der "liebste Mensch auf der Welt" war.

Kreuzungspunkte

Sie bedeutete nicht nur eine emotionale Kindheits-, sondern eine Lebensmarkierung überhaupt. Als sie am 6. Mai 1942 aus dem Sammellager im zweiten Bezirk zum Bahnhof gebracht wurde, stand die Enkelin zufällig an der Schwedenbrücke und sah die Großmutter auf dem Lastwagen. "Und irgendjemand hat gerufen, schau, hier ist die Ilse. Aber sie hat sich nicht umgedreht."

Überhaupt gibt es in dieser Familienbiografie merkwürdige Kreuzungspunkte: Im 19. Jahrhundert war der Vater der Großmutter als Eisenbahningenieur unter anderem für den Aufbau einer kleinen Bahnstation namens Auschwitz zuständig.

Oder 1930, als ein junger Arzt vor der Tür stand und bat, mit den Kindern sprechen zu dürfen, weil er ein Buch über Zwillinge schreiben wolle. Er war nett und höflich, erinnerte sich Ilse Aichinger, und stellte viele Fragen – "aber meine Schwester und ich hatten Angst und haben ihm nicht viel gesagt". Nachher wusste man, dass es jener Dr. Mengele war, der in Auschwitz unmenschliche Versuche an Zwillingen anstellte und darüber entschied, wer in die Gaskammern ging.

Erste Veröffentlichung

Erst spät wurde der Verlust der Großmutter akzeptiert: "Ich dachte lange, sie kommt zurück." Aus der zerbrochenen Hoffnung wurde Misstrauen – ein Schlüsselwort in Ilse Aichingers Literatur, es beschreibt all das, was sich aus dieser Erfahrung ins Leben danach einkerbte, Ilse Aichinger zeigte sich fortan unversöhnlich gegenüber der Geschichte.

Auch die Nachkriegsjahre blieben entbehrungsreich, Mutter und Tochter mussten sich noch jahrelang ein kleines Untermietzimmer teilen, eine Vorsprache am Wohnungsamt endete mit den denkwürdigen Worten: "Schlafen S’ in der Hängematt’n!"

Damals begann Ilse Aichinger ernsthaft zu schreiben, auf dem kleinen Tisch einer fremden Küche. "Das vierte Tor" heißt ihre erste Veröffentlichung: Sie erschien am 1. September 1945 im eben erst gegründeten Wiener Kurier und erzählt davon, wie der jüdische Friedhof unmittelbar an der Stadtgrenze zum letzten verbliebenen Rückzugsort für jüdische Kinder wurde.

Ob die Leser den Text der damals 23-jährigen Autorin verstanden, ist fraglich, widerspricht er doch dem Verdrängungswunsch, der sich gerade ins Bewusstsein der Österreicher einzuschreiben begann. Mit "Aufruf zum Mißtrauen" ist nicht zufällig eine weitere frühe Veröffentlichung überschrieben, die 1946 in der von Otto Basil herausgegebenen Literaturzeitschrift Der Plan erschienen ist.

Sich selbst misstrauen

Dort beginnt der vielleicht wichtigste Satz mit einem Aber: "Aber wir sollen uns nicht beruhigen!" Der programmatische Titel fordert die Leser auf, der Welt und vor allem sich selbst zu misstrauen – das sollte fortan sechzig Jahre lang Aichingers Literatur bestimmen. Später meinte sie einmal: "Die Welt verlangt danach, gekontert zu werden." Das ist auch so ein Aichinger-Wort. Existieren ohne Widerspruch ist unmöglich.

Aichingers Weltsicht ist abgeklärt, sie beruht auf rationaler Erkenntnis und hat den Hang zur Verneinung: Auf die Welt gekommen zu sein empfand sie als Überrumpelung, auf die man nur mit dem Wunsch zu verschwinden reagieren könne – für sie die "Grundsehnsucht" schlechthin.

Das Leben sei dabei nur "ein unnützer Umweg zum Nicht-mehr-da-Sein". In ihrem letzten Interview 2005 erklärte sie: "Mein Widerwille gegen die eigene Existenz ist sehr groß. Es braucht viel Geduld, damit fertigzuwerden." Jahre vorher hatte sie angemerkt: "Es gehört viel vitaler Irrsinn dazu, auf der Welt zu bleiben."

Ilse Aichinger (links) mit ihrer Zwillingsschwester Helga und deren Tochter Ruth 1948 in London. Im selben Jahr erschien Ilse Aichingers Roman "Die größere Hoffnung".
Foto: DLA-Marbach

Dennoch ist Aichingers Literatur von dieser existenziellen Düsternis nicht so umwölkt, wie es ihre Selbstaussagen erwarten ließen. Walter Jens hat ihre Prosa lyrisch genannt, genauso mag man sie als philosophisch-durchdacht bezeichnen, und sie ist vor allem eines: präzise. Schließlich hat Aichinger auch der Sprache immer misstraut und vielleicht auch deshalb, verglichen mit ihren Zeitgenossen, relativ wenig geschrieben.

Als lyrisch und ebenso präzise zeigt sich bereits ihr Roman Die größere Hoffnung, den sie bald nach dem Krieg im Dienstzimmer ihrer Mutter in einer Kurklinik im 19. Bezirk schrieb. Eigentlich wollte sie nur einen Bericht verfassen über den Krieg und die Verfolgung, "damit man weiß, was geschehen ist", aber mehr noch war es die Notwendigkeit für sich selbst. Denn insgesamt hat das Schreiben ihr Leben definiert. Später hat sie es als "Kontern der Existenz" begriffen.

Spiegelungen

Dabei war das Schreiben als Beruf gar nicht beabsichtigt, Aichinger begann zunächst Medizin zu studieren, aber sie erwies sich als zu "ungeschickt". Als der Roman 1948 erschien, entstand auch die Spiegelgeschichte, genauer, der erste Satz. Es dauerte zwei Jahre, bis ihr der zweite Satz einfiel und sie die Erzählung fertigschreiben konnte. Insgesamt schrieb sie länger an dieser Erzählung als am Roman. Es sollte auch für immer ihr wichtigster Text bleiben: die von hinten, gleichsam im Spiegel erzählte Lebensgeschichte einer jungen Frau, die an einer Abtreibung stirbt.

Die Spiegelgeschichte ist längst verbindliche Schullektüre (zumindest war sie das noch um 1980) und verdankt ihre Entstehung dem ersten Englandaufenthalt im Jahr 1947. Als Ilse Aichinger damals an einem Spital im Londoner Eastend vorbeikam, erzählte ihre Schwester, dass in diesem Krankenhaus "die Ruth", eine gemeinsame Freundin, gestorben sei, an den Folgen eines Schwangerschaftsabbruchs. 1952 erhielt Aichinger dafür den Preis der Gruppe 47 und wurde über Nacht berühmt.

Mit dem Preisgeld ging sie sofort ins Dorotheum, um den Wintermantel ihrer Mutter auszulösen. Die Gruppe 47 sollte auch privat ihr Leben bestimmen, denn im Jahr davor hatte sie dort den Lyriker und Hörspielautor Günther Eich kennengelernt, der schließlich ihr Ehemann wurde. Bayern, später Großgmain wurden zum Lebensmittelpunkt, dort wuchsen auch die beiden Kinder Clemens (später ebenfalls Schriftsteller) und Mirjam auf.

Geburtshelfer

Mit Ilse Aichinger, so kann man heute lesen, beginnt die Nachkriegsliteratur in Österreich. Die Aussage geht auf Hans Weigel zurück, der 1966 einen Aufsatz über die Wiedergeburt der österreichischen Literatur eindringlich betitelte: "Es begann mit Ilse Aichinger".

Wie für viele andere war Weigel auch für Aichinger ein Geburtshelfer. Er hatte, erinnerte sie sich später, ein paar Typoskriptblätter ihres Romans Die größere Hoffnung entnommen und sie ohne ihr Wissen dem Verleger Gottfried Bermann Fischer und dessen Frau gezeigt, als diese sich gerade in Wien aufhielten. Der Roman wurde von der Kritik als das langerwartete "Buch unserer Zeit" begrüßt. Auch wenn es einige Jahre dauerte, bis er seine Leser fand – fortan war Ilse Aichinger Autorin des S.-Fischer-Verlags.

Mit ihr zieht tatsächlich ein neuer Ton ein in die deutschsprachige Literatur, der sie auch von Ingeborg Bachmann unterscheidet, mit der sie anfangs befreundet war. Für Aichingers Literatur ist die Verknappung das bestimmende Mittel, inhaltlich blieb sie – diesen Eindruck gewinnt man vor allem in den frühen parabelartigen Erzählungen – auf Kafka ausgerichtet, obwohl sie ihn nie als Vorbild ansah und auch erst viel später begonnen hatte, ihn zu lesen. Dennoch entwickeln sich viele ihrer Texte aus absurden und irritierenden Momenten. Stets will sie das Verdeckte, die Wirklichkeit dahinter beschreiben.

Maßstab für Präzision

Man mag auch an Kleist denken, an seinen Aufsatz über das Marionettentheater, wenn man später Ilse Aichinger beschwören hört: "Es ist das Paradies, endlich das Bewusstsein zu verlieren." Das wäre wohl die "größere" Wirklichkeit. Und sie hatte eine Vorliebe für Stifter, Beckett, Joyce, Joseph Conrad und Thomas Bernhard und ganz zuletzt für den rumänischen Essayisten Cioran, in dessen Daseinsskepsis sie ihre eigene Weltsicht bestätigt fand.

In mancher Hinsicht verstörend sind auch Aichingers Dialoge und Hörspiele. Ihre Gedichte, die sie 1978 unter dem Titel Verschenkter Rat veröffentlichte, zeigen sich hingegen in geradezu sachlicher Schönheit. Ihre Prosa beschränkte sich nach der Größeren Hoffnung auf Erzählungen und später essayistische Betrachtungen mit autobiografischen Reflexionen, sie wurden zum Maßstab für Präzision, mit der man Aichingers Schreiben verbindet.

Mit Präzision, aber auch Abstraktion galt es schließlich, das Existenzielle zu bewältigen. Denn Sprache war für Ilse Aichinger immer ein Mittel, um sich gegen die Zumutungen der Existenz wehren zu können. Schreiben bedeutete für sie definieren, "ohne Auslassung zu sagen, was eine Sache ist".

Sprache gegen Geschwätz

Als sie zu schreiben begann, war Sprache für sie etwas ungeheuer Kostbares. Später empfand sie Sprache zunehmend als verstörendes Medium, und irgendwann hörte sie auf zu publizieren. 1995 meinte sie, die Sprache wäre zum Geschwätz verkommen. Die Entwertung ließ sie verstummen, fünfzehn Jahre lang schrieb sie so gut wie nichts mehr. Das Wichtigste am Schreiben, sagte sie oft, sei das Schweigen, das Nicht-Schreiben. In dem 1968 entstandenen poetologischen Essay Meine Sprache und ich heißt es gar: "Meine Sprache und ich (…), wir haben uns nichts zu sagen."

Im Alter kehrte sie wieder nach Wien zurück, das war 1988, und zu diesem Zeitpunkt schien sie tatsächlich verstummt. Damals schrieb Samuel Moser: "Es ist still um sie. Sie ist die große Außenseiterin der deutschen Literatur." Erst nach der Jahrtausendwende fing sie wieder an, regelmäßig zu schreiben, zunächst für den STANDARD, später Die Presse, Kurztexte, die meist im Kaffeehaus entstanden, unter dem Übertitel "Journal des Verschwindens", "Unglaubwürdige Reisen" und "Schattenspiele".

Sie zählen zum Essenziellsten und auch zum Unerbittlichsten, was Ilse Aichinger geschrieben hat. Nicht nur weil sie im Alter, wie sie sagte, "anarchistischer und nihilistischer" geworden sei, ihr Stil beeindruckte nicht nur durch formale Schönheit, er war messerscharf präzise, und er war noch kompromissloser geworden.

Die letzten Reflexionen

In dieser Konsequenz galten die letzten Reflexionen dem eigenen Leben, auf das sie immer intensiver zurückblickte, der ermordeten Großmutter ("Sie war die wichtigste Person in meinem Leben") und dem Kino, in das sie fast täglich ging. Der Film war ihre große Leidenschaft und zugleich Fluchtmöglichkeit aus der ungeliebten Wirklichkeit.

Ein Sinnbild dafür war die lebensgroße Pappfigur von Stan Laurel, die bis zu ihrem Tod im Jahr 2016 in ihrer Wohnung in der Herrengasse stand. Über ihn und Oliver Hardy schrieb sie einen Text mit dem Titel "Souveränität der Lächerlichkeit", er beginnt mit den Worten: "Gefragt wird keiner: nicht nach der Bereitschaft zur eigenen Existenz" … und endet mit dem Gedanken eines Todes, der einen besser "früh genug" ereilen möge: "vielleicht eine freundliche Geste des Schicksals".

Oft ging Ilse Aichinger in drei, vier Kinovorstellungen an einem Tag – "um die Zeit totzuschlagen". 2003 klagte sie, dass es ihr "schon viel zu lange dauert". Da war sie 82, und das Schicksal erwies sich nicht gnädig. Bis zum Verschwinden, von dem sie schon als Kind geträumt hatte, dauerte es noch dreizehn Jahre. (Gerhard Zeillinger, ALBUM, 30.10.2021)