Berlin, September 2021. Eine Gruppe junger Menschen ist in den Klima-Hungerstreik getreten. Erreichen wollten sie ein Gespräch mit den Kanzlerkandidaten. Der Wunsch blieb unerfüllt.

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Die Gestalten des Protests haben sich in der Moderne vielfach ausdifferenziert, in gewaltsame oder gewaltlose Aktionsformen: Hindernisse werden überwunden oder Barrikaden errichtet. Bewegungen – wie die Erstürmung eines Gebäudes – werden angefacht; andere Bewegungen werden blockiert, beispielsweise durch die Besetzung von Eisenbahngleisen oder das Anzünden von Autos.

Manche Proteste erinnern an eine avantgardistische Performance, ganz abgesehen davon, dass sie oft von deklamierten Parolen, Plakaten, Bildern und Musik begleitet werden. Wer protestiert? "Ein Mensch, der Nein sagt", antwortet Albert Camus gleich auf den ersten Seiten seiner Essays zum L’homme révolté (1951).

Doch wer Nein sagt, so setzt er fort, artikuliert auch ein Ja, ein Ja zu einem Ziel, zu einem Recht, zu einem Wert. Das Nein ist eine bestimmte Negation, etwa im Streik für einen höheren Lohn, in Demonstrationen für Anerkennung, gegen Diskriminierung und Gewalt, im Kampf um Freiheitsrechte und Frieden.

"Aufs Ganze gehen"

Was aber, wenn das Nein gleichsam "aufs Ganze" geht, besser gesagt: wenn es sich gegen die Gefährdung des Ganzen richtet? Spätestens seit den Friedensbewegungen und Ostermärschen, beginnend in den 1950er-Jahren, die gegen die nukleare Aufrüstung, gegen Atomtests und Atomkriegsdrohungen zur strategischen "Abschreckung" protestierten, fällt es zunehmend schwer, von bestimmten Negationen zu sprechen.

Was sollen wir den jungen Menschen antworten, die – etwa in den Fridays-for-Future-Protesten – gegen die Zerstörung nicht nur ihrer eigenen Zukunft demonstrieren, nicht nur gegen die Vernichtung so vieler Arten, dass zu Recht vom sechsten Massensterben der Evolutionsgeschichte im sogenannten "Anthropozän" gesprochen werden kann, sondern auch gegen den Untergang der Menschengattung selbst? Sie protestieren "im Namen auch der Angegriffenen selbst" (Klaus Heinrich ).

Vor 135 Jahren schrieb Friedrich Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse (1886), er höre "von Ferne her irgendein böses bedrohliches Geräusch", ganz "als ob irgendwo ein neuer Sprengstoff versucht werde, ein Dynamit des Geistes". Er bezog dieses Geräusch auf einen "Pessimismus bonae voluntatis, der nicht bloß Nein sagt, Nein will, sondern – schrecklich zu denken! – Nein tut", und er charakterisierte diese neue Art von "gutem Willen" als einen "Willen zur wirklichen tätlichen Verneinung des Lebens".

Mächtige Henker

Nietzsches Worte zielten auf den russischen Anarchismus, auf die politische Bereitschaft, nicht nur das Leben verhasster Machthaber anzugreifen, sondern auch das eigene Leben zu riskieren. Es sei ein Symptom der Trostlosigkeit, dass "sie zerstören, um zerstört zu werden", indem "sie die Mächtigen zwingen, ihre Henker zu sein. Dies ist die europäische Form des Buddhismus, das Nein-tun, nachdem alles Dasein seinen Sinn verloren hat." Zerstören, um zerstört zu werden: Präziser lässt sich die Intention etwa eines Suizidattentats kaum beschreiben.

Eine spezifische Gestalt des "Nein-Tuns" hat sich im Hungerstreik ausgeprägt: als Protest gegen Herrschaft, der zugleich jedes Bündnis mit der Welt, wie es noch im Essen und Trinken aufrechterhalten wird, verweigert.

Die politische Geschichte des Hungerstreiks wird häufig mit Indien und dem gewaltlosen Widerstand Gandhis assoziiert: Während der 1930er- und 1940er-Jahre verzichtete Gandhi wiederholt und wochenlang auf jede Nahrung, um den Ausbruch eines Bürgerkriegs zu verhindern. Doch tatsächlich waren es Frauen in Großbritannien und in den USA, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts für ihr Wahlrecht kämpften – nach dem englisch-französischen Begriff für Wahlrecht, suffrage, wurden sie als Suffragetten bezeichnet –, die zuerst in Hungerstreiks traten.

Am 10. Oktober 1903 gründete Emmeline Pankhurst in Manchester die Women’s Social and Political Union. Sie entwickelte eine Theorie des gewaltlosen Widerstands, der sich nur gegen Eigentum, nicht gegen Personen richten sollte; die Suffragetten demonstrierten, zündeten Briefkästen an, verwüsteten Golfplätze oder warfen Fensterscheiben ein.

Beispiellose Grausamkeit

Die Suffragetten wurden in Holloway (London), dem größten Frauengefängnis Westeuropas, inhaftiert, verlangten jedoch, als politische Gefangene – etwa mit dem Recht auf Zivilkleidung – behandelt zu werden, verweigerten die Gefängniskost und traten in den Hungerstreik.

In ihrer Autobiografie beschreibt Emmeline Pankhurst die Lage: "Der erste Hungerstreik fand Anfang Juli [1909] statt. In den folgenden zwei Monaten übernahm eine große Zahl von Frauen diese Form des Protestes gegen eine Regierung, die den politischen Charakter ihrer Straftaten nicht anerkennen wollte. In manchen Fällen wurden sie mit beispielloser Grausamkeit behandelt. Schwache und zarte Frauen wurden nicht nur zu Einzelhaft verurteilt, sondern sogar dazu, vierundzwanzig Stunden lang Handschellen zu tragen. Eine Frau, die das Tragen von Gefängniskleidung ablehnte, wurde in eine Zwangsjacke gesteckt."

Doch schlimmer noch als eine Zwangsjacke wirkte die gewaltsame Zwangsernährung, bei der die Gefangene an ein Bett gefesselt wurde. Ein Arzt stopfte ihr einen zwei Meter langen Gummischlauch in ein Nasenloch und goss durch einen Trichter Flüssigkeit hinein; die Opfer hatten das Gefühl, beinahe zu ersticken.

Hungerstreik

1914 unterzog sich die damals 22-jährige Schriftstellerin und Reporterin Djuna Barnes freiwillig dieser Prozedur, um die Erfahrungen der inhaftierten Suffragetten angemessen beschreiben zu können; ihr Bericht erschien am 6. September 1914 – unter dem Titel "How It Feels to Be Forcibly Fed" – im New York World Magazine. Darin erinnert sie sich, es sei ausgerechnet Milch gewesen, die ihr in den Magen gepresst wurde.

Erst mehr als sechzig Jahre später, im Oktober 1975, erklärte der Weltärztebund, die World Medical Association (WMA), in Tokio, dass Ärzte sich an keinen Praktiken der Folter, grausamer, unmenschlicher, erniedrigender Behandlung oder Bestrafung beteiligen sollen; Nahrungsverweigerungen und Hungerstreiks sollen zwar mit Aufklärung über die Folgen, nicht aber mit Zwangsernährungsmaßnahmen beantwortet werden.

Präzisere Richtlinien zum ärztlichen Umgang mit Hungerstreiks wurden im November 1991 in der Deklaration von Malta formuliert. Darin hieß es ganz klar: "Forcible feeding is never ethically acceptable". Die WMA-Deklarationen waren freilich rechtlich nicht bindend, wie sich spätestens nach den Debatten um Foltermethoden wie Waterboarding oder Zwangsernährungspraktiken im US-Internierungslager von Guantánamo zeigte.

Erschreckende Gewissheit

Nein sagen, Nein tun: Die Hungerstreiks der jüngeren Geschichte – zuletzt der Hungerstreik von Aktivistinnen und Aktivisten der Fridays for-Future-Bewegung, die am 30. August 2021 in der Nähe des Berliner Reichstagsgebäudes ihre Nahrungsverweigerung begannen – zielten nicht darauf, zu "zerstören, um zerstört zu werden".

Auch ein "europäischer Buddhismus" kann ihnen gewiss nicht nachgesagt werden. Was sie erreichen wollten, war schlicht ein Gespräch mit dem SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz, doch selbst dieser Wunsch wurde nicht erfüllt.

Auf den Plakaten vor den Zelten der Hungerstreikenden hieß es: "Hungerstreik der letzten Generation". In solcher Selbstkennzeichnung als "letzte Generation" spiegelt sich die erschreckende Gewissheit, dass wir uns im Schatten eines "Karfreitags" der Menschengattung, ja des Lebens auf der Erde, bewegen, gleichsam ohne auf einen "Ostersonntag" hoffen zu dürfen. (Thomas Macho, ALBUM, 30.10.2021)