Zunächst war es ein Gerücht: Am 9. August, am Vorabend der ORF-Generalswahl, macht ein Screenshot von einem Treffen ÖVP-naher Stiftungsräte im März 2021 die Runde. Der Screenshot von dem per Skype-Videokonferenz abgehaltenen Treffen des türkisen "Freundeskreises" im obersten ORF-Gremium zeigt unter anderen den späteren Generaldirektor des ORF, Roland Weißmann, sowie Gerald Fleischmann, zu diesem Zeitpunkt Medienbeauftragter und einer der engsten Mitarbeiter des damaligen Bundeskanzlers Sebastian Kurz.

Roland Weißmann tritt am 1. Jänner 2022 die Nachfolge von Alexander Wrabetz als ORF-Generaldirektor an. Er gilt als Wunschkandidat der Türkisen und könnte nach dem Rücktritt von Sebastian Kurz das Unternehmen freier von parteipolitischen Interessen führen.
Foto: APA / Roland Schlager

Dass Parteien bestimmen, wer im ORF das Sagen hat, ist nicht neu. Doch selten wird die enge Verquickung so offensichtlich. Dabei war es nicht das erste Treffen in diesem vertrauten Kreis – an besagtem Abend steht längst fest, dass der bürgerliche Wunschkandidat Weißmann ab Jänner 2022 Österreichs größtes Medienhaus führen wird.

Die Türkisen wollen den "Roli" – Chefproducer, Vizefinanzchef, ORF.at-Geschäftsführer. Die ÖVP hat die Mehrheit im Stiftungsrat, die Grünen und weitere Vertreter im Aufsichtsgremium ziehen mit. Weißmann wird mit 24 von 35 Stimmen bestellt. Ein weiterer Sieg der Kurz-Partei.

Vollendete Tatsachen

Aber dann kamen die Chat-Protokolle, Sebastian Kurz machte den Schritt "zur Seite" und mit ihm seine engen Gefolgsleute, allen voran Fleischmann, der als Königsmacher von Weißmann gilt. Und plötzlich steht der Wunschkandidat ohne mächtige politische Verbündete da.

Was bedeutet das für den ORF? Welche Auswirkungen hat der Crash der Kurz-Partei auf den ORF? Was ändert sich im Verhalten des designierten Generaldirektors, den manche als bloßen Erfüllungsgehilfen der Türkisen sahen und dem sie nicht allzu viel Eigenständigkeit zutrauten? Die Antwort darauf reicht von "nichts" bis zu "ganz viel" – je nachdem, wen man fragt. Vorweg: Weder Fleischmann noch Weißmann reagierten auf STANDARD-Anfragen.

"Nichts", sagt hingegen Thomas Zach, Leiter des ÖVP-"Freundeskreises" im Stiftungsrat. Der Kurz-Rücktritt habe die Ausgangsposition für die nächste ORF-Generaldirektion nicht verändert, ist er überzeugt. Zach gilt als wichtiges Verbindungsglied der weiterhin intakten Achse Fleischmann-Weißmann. Der Unternehmensberater beruft sich auf die breite Mehrheit bei der Bestellung Weißmanns. Es gebe einen "klaren Handlungsauftrag für die Geschäftsführung", sagt Zach. Der würde weiter bestehen.

Macht über die Information

"Warum sollte das Auswirkungen auf den ORF haben?", fragt auch die Mediensprecherin der Grünen, Eva Blimlinger. Von einem "Crash" will sie im Zusammenhang mit dem Kurz-Rücktritt ebenfalls nicht sprechen, dieser sei allenfalls "ein kleiner Blechschaden". Schließlich sei die Regierung ja noch im Amt.

"Nichts" – das sagen auch all jene, die die Verknüpfungen des ORF mit Österreichs Innenpolitik gut kennen und kritisch sehen. "Weißmann ist nicht ohne Fleischmann", sagt ein Insider. Der Kurz-Mann ziehe von der ÖVP-Parteizentrale aus weiter die Fäden, zumal sich im Kreise der Beschuldigten die Überzeugung hält, man sei Opfer einer Verschwörung des WKStA. Sobald sich diese auflöse, käme man mit Pauken und Trompeten zurück.

Mit dem Rücktritt von Sebastian Kurz ging auch dessen ambitionierter Medienbeauftragter Gerald Fleischmann. Er soll im Hintergrund noch immer die Fäden ziehen. Mit Thomas Zach sitzt sein direkter Kontaktmann im ORF-Stiftungsrat.
Foto: Heribert Corn www.corn.at

Im Fall des ORF geht es um die Macht über die Information, um Geld und um die Steuerung eines prestigeträchtigen Unternehmens. Und Roland Weißmann wird ein mächtiger Generaldirektor sein, als Chef eines multimedialen Newsrooms mit TV-, Radio- und Online-Info sogar einflussreicher als alle Vorgänger. "Da wird bedient, dass die Balken nur so krachen", fürchtet ein Mitarbeiter.

Auf "ganz viel" Veränderung hoffen hingegen jene, die weiter an die Eigenständigkeit des ORF glauben. Man findet sie mehrheitlich in den Gängen der Redaktion. Weißmann bekundete nach seiner Wahl mehrfach den unverhandelbaren Willen zur Unabhängigkeit.

Emanzipierter ORF

Die Fähigkeit, sich von den Türkisen zu emanzipieren, wollen ihm diese ORFler nicht absprechen. "Er ist schon jetzt mehr ORF als ÖVP", beschreibt es ein Redakteur. Die realpolitischen Verhältnisse sprächen dafür: Selbst innerhalb der ÖVP glauben nur noch wenige, dass Kurz jemals wieder als Kanzler zurückkommt – was dem künftigen General mehr Ungebundenheit einräumen könnte.

Abgesehen davon, dass die türkise Krise als nicht ausgestanden gilt. Politbeobachter schließen Neuwahlen im Mai noch immer nicht aus. Dann wäre Kurz, aber auch Fleischmann womöglich Geschichte. Dass der neue, im Umgang mit Medien unerfahrene Kanzlersprecher Shilten Joseph Palathunkal das Machtvakuum Fleischmanns füllen kann und wird, glaubt weiters niemand wirklich.

Ganz leicht dürfte es Weißmann ohnehin nicht haben. Eine kritische Redaktion und Öffentlichkeit wird ihn an seinen Taten messen. Der Redakteursrat arbeitet gerade neue Statuten mit stärkeren Rechten für die Mitarbeiter aus. Nicht auszuschließen ist zudem, dass weitere Chats ans Tageslicht kommen, die auch den ORF betreffen. Aber das ist vorerst nur: ein Gerücht. (Doris Priesching, 30.10.2021)