Reckwitz und Rosa (r.) sind gegenwärtig die einflussreichsten Soziologen deutscher Sprache.

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Die Ansätze der beiden Sozialphilosophen könnten unterschiedlicher kaum sein. Andreas Reckwitz gebraucht die Gesellschaftstheorie als "Werkzeug", mit dessen Hilfe die Strukturmerkmale einer spürbar stagnierenden Kulturformation bearbeitet werden können. Hartmut Rosa antwortet darauf, indem er die unausgesetzten Steigerungszwänge innerhalb der Gesellschaft herausarbeitet und scharf geißelt. Tenor: Theorie muss Stellung nehmen.

Heraus kommt ein anregender Doppelband, mit einem von Martin Bauer moderierten Gespräch zum Abgleich: Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie? ist ein Werk, das der deutschsprachigen Sozialwissenschaft eine zentrale (Doppel-)Position in der internationalen Debatte zuweist.

Der Sozialwissenschafter Andreas Reckwitz hat die "kritische Analyse" der Gesellschaft in ein hochbewegliches Spiel der Begriffe verwandelt.
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Zu Terminen erscheint der freundliche Anwalt des "neuen Mittelstandes" stets korrekt gekleidet: Auf den ersten Blick könnte man den Kultursoziologen Andreas Reckwitz (51) für den bürgerlichen Cousin Herbert Grönemeyers halten. Reckwitz lehrt heute an der Berliner Humboldt-Universität. Mit seiner "Gesellschaft der Singularitäten" ist der gebürtige Wittener zur bundesrepublikanischen Eule der Minerva geworden.

Reckwitz gilt als Meister begrifflicher Schärfe, mit Hang zu elastischer Nutzanwendung. Die Epoche der Moderne erklärte er zum Schauplatz permanenter Krisen. Sein Theorie-Set? Das Begriffsbesteck? Glänzt wie Chrom. Bereits als Student trachtete er danach, das bundesdeutsche Schisma zwischen Systemtheorie (Niklas Luhmann) und kommunikativem Handeln (Jürgen Habermas) aufzuheben: im berühmten mehrfachen Wortsinn.

Prompt greifen Reckwitz’ Fragen wirkungsvoll ineinander. Wie sehen die Fabrikationsweisen des Sozialen aus? In welchem Wechselverhältnis stehen Lebensformen und Institutionen zueinander? Reckwitz, der in Cambridge bei Anthony Giddens studiert hat, fasst die dialektische Bewegung des Fortschritts neu. Letzteren befreit er von lästigen Vorannahmen; darunter derjenigen, dass er in allseits ungetrübte Harmonie münden müsse.

Als weitaus zählebiger erweist sich dagegen die Krisenhaftigkeit von Gesellschaftsprozessen. Die Epoche der Moderne sorgt daher seit rund 250 Jahren für Umwälzungen in Permanenz. Der Modus dieser Veränderungen ist die "Dauerrevision": Sobald die soziale Welt stagniert, erzwingt der Istzustand das Bedürfnis nach Veränderung.

Neue Bedürfnisse

Die Gesellschaft wird mit einem Mal offen für Kontingenz: Praktiken, Institutionen, Lebensformen können eben auch "anders" sein, als Schulweisheit, Aberglaube, Borniertheit etc. es sich träumen lassen. "Moderne" Gesellschaftlichkeit entpuppt sich somit als Wechselspiel von Kontingenzöffnung und -schließung. Die Logik der Rationalisierung wechselt sich ab mit derjenigen der Kulturalisierung. Sobald "Praktiken" der Verallgemeinerung auf Dauer gestellt sind, regt sich das Bedürfnis nach Subjektivierung. Stets wirken Mentalitäten auf Einrichtungen. Diese strahlen zurück auf uns Konsumenten und Nutz nießer. Auf die bürgerliche folgt die industrielle Moderne, auf diese die "Spätmoderne".

Stille Helden des Reckwitz’schen Theorieansatzes sind die Vertreter des "neuen Mittelstandes". Sie darf man als Gewinner des postindustriellen Kapitalismus beglückwünschen. Ihre Exponenten leisten kognitive und nicht Akkordarbeit. Die globale Mittelklasse kann es sich leisten, sich von schönen Dingen des Lebens "affizieren" zu lassen.

Steigerung des Werts

Die Steigerung des Selbstwertgefühls ist stets an Voraussetzungen gekoppelt. Man hat im Wettbewerb der mehr oder minder zahlungskräftigen Subjekte die Oberhand behalten. Andreas Reckwitz ist – ganz im Gegensatz zu Hartmut Rosa – ein Verflüssiger von Widersprüchen. Konkurrenzeffekte dämpft er durch Auflegen begrifflicher Wundpflaster. Diese sollen Unvoreingenommenheit gewährleisten.

Reckwitz hat die Gesellschaft der Singularitäten (2017) erforscht und zuletzt das Ende der Illusionen (2019) wortreich beschworen. Er hat Pierre Bourdieus Habitus-Fragen neu eingekleidet: Indem er gezeigt hat, dass jeder beliebige Gegenstand annektiert werden kann, um "Werte" zu schöpfen ("Valorisierungen"), die den singulär Reichen und Schönen zur Ästhetisierung ihrer Alltagsexistenz verhelfen.

Doch allmählich wendet sich das Blatt und Reckwitz (ein gefragter Berater von sozialphilosophisch alerten Politikern) sich verstärkt den Verlierern zu. Er nennt sie die "Modernisierungsverlierer der ökonomischen Asymmetrie". Reckwitz bedenkt mit nachdenklichem Unterton die Verlusterfahrungen, die alle diejenigen durchmachen, die sich den Anforderungen des "Dynamisierungsliberalismus" nicht gewachsen zeigen. Ihren Regulierungsbedürfnissen wird sich die Spätmoderne zuwenden müssen, um ihrerseits zur Post-Spätmoderne zu werden. Eine Formation, die sich stärker gegenüber Zauberwörtern wie Flexibilisierung abgrenzt.

Zusammen mit dem deutlich kritischeren Rosa bildet Reckwitz in der Zwischenzeit ein Dioskurenpaar. Insofern enthält Reckwitz’ Lob der Singularisierung (die Logik der eigenen Herausstellung) auch nur die Hälfte der Wahrheit. (poh)


Geschichte der Moderne sei eine der permanenten Beschleunigung und Reichweitensteigerung, befindet Hartmut Rosa.
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Vielleicht ist das Einnehmendste an Hartmut Rosa ja sein melodiöser Akzent. Der schwäbische Einschlag verweist auf den Geburtsort Lörrach in der südwestdeutschen Schwarzwaldregion. Aus derselben Ecke stammt nicht nur der emeritierte deutsche Fußballphilosoph Joachim "Jogi" Löw, sondern auch – und das ist dann doch relevanter für die Biografie Rosas – Georg Wilhelm Friedrich Hegel, unerreichter Spitzendenker der Philosophieepoche des Deutschen Idealismus.

Wie Hegel einst um 1800 lehrt Hartmut Rosa heute in der geschichtsträchtigen Universitätsstadt Jena. Und während dem Altvorderen sein für die damalige Zuhörerschaft völlig unverständliches Schwäbisch beinahe die Karriere gekostet hätte, spitzt bei Hartmut Rosa heute jeder die Ohren. Ja, seine Vorträge bleiben hängen, sie wissen zu betören. Dass der 56-Jährige als ziemliche, Pardon, Quasseltante ausgerechnet den Begriff der Beschleunigung in der Soziologie groß gemacht hat, besitzt Ironie: Er ist seinem Kritikgegenstand tempomäßig gewachsen, könnte man ätzen.

Ja zum Gegenentwurf

Rosas wissenschaftliche Karriere führte von Freiburg über Berlin bis an die London School of Economics und an die Harvard University. Neben der Professur in Jena (seit 2005) ist er außerdem Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt.

Weber, ein Gründervater der deutschen Soziologie, zählt folglich zu Rosas Leitgestirnen, ebenso Hegel und die darauf aufbauende Frankfurter Schule. Mit ihr geht Rosa davon aus, dass es eine Sache gibt, die die Geschichte, speziell die der Moderne, vorantreibt. Und dass es Aufgabe zumindest eines Teils der Soziologie sein sollte, Kritikwürdiges zu lokalisieren und dazu auch Gegenentwürfe zu formulieren.

Von Hegel und Marx abweichend glaubt Rosa dabei aber nicht an ein bestimmtes Ziel, auf das die gesamte Entwicklung der Gesellschaft zusteuert. Dementsprechend versteht er seine ganze Theorie nicht als einzig wahre Heilsgeschichte, sondern als eine Analyse unter vielen – ein Akt der bewussten Selbstbeschränkung, den Rosa mit Andreas Reckwitz, dem zweiten "wichtigsten Soziologen Deutschlands", teilt.

Diverse Schmiermittel

Die Unterschiede der seit langem kollegial Verbundenen verdeutlicht am besten eine Metapher: Wenn Reckwitz derjenige ist, der die Maschine und ihre Produktionsspitzen im Zeitverlauf beschreibt, interessiert sich Rosa mehr dafür, was die Maschine antreibt und welches Schmiermittel zum Einsatz kommt.

Reckwitz begreift die Geschichte der (Spät-)Moderne als ein beständiges sich Öffnen und Schließen, Deregulieren und Regulieren, Herstellen von Freiheit versus Sicherheit. Rosa hingegen sieht vor allem eine seit dem Industriezeitalter sich immer weiter radikalisierende Kultur der Beschleunigung am Werk, die er 2005 erstmals beschrieb.

Seither hat er diese umfassende Theorie immer weiter verfeinert. Etwa um den Begriff der (Un-)Verfügbarkeit, der meint, dass nicht nur der Drang nach Beschleunigung auf allen Ebenen das westliche Lebensmodell bestimmt, sondern auch jener nach permanenter Reichweitensteigerung und Verfügbarmachung von Welt.

Auf der Makroebene macht ihn das zu einem Kritiker des unbedingten Wirtschaftswachstums, auf der Mikroebene beschreibt Rosa die Psychokrise, die der Beschleunigungsimperativ auslöst: Burnout, Depression, Ermattung. Gerne führt Rosa auch vermeintlich banale Beispiele an, wie das Paradox, wonach die unbegrenzte Verfügbarkeit jedweden Musikstücks auf Streamingplattformen rasch dazu führt, dass man gar keine Musik mehr hört.

Wider die Angst

Resonanz lautet letztlich das Zaubermittel bei Rosa, dem er heilende Wirkung zuspricht. Gemeint sind als gut empfundene Begegnungen, Gespräche, Erlebnisse etc., die einen wahrhaft berühren, die "zu und mit einem sprechen" und wo ein fruchtbarer Austausch entsteht. Politisch plädiert Rosa für eine Form des bedingungslosen Grundeinkommens, weil es die Arbeitenden von einer maßgeblichen Triebfeder der Beschleunigung erlöse: der permanenten Angst vor Jobverlust.

Stilistisch wie inhaltlich steckt in Rosas Texten vieles, was den Sozialphilosophen Erich Fromm (Die Kunst des Liebens, Haben oder Sein) auszeichnete: ein Händchen dafür, das Publikum nicht nur im Verstand, sondern auch ins Herz zu treffen. Im Gegensatz zu Reckwitz scheut Rosa denn auch das Pathos nicht, wenn er schreibt: "Jede Liebe endet, wenn wir versuchen, das Geliebte vollständig in unsere Gewalt und unter Kontrolle zu bringen."(stew, 30.10.2021)