Als Jan Marsalek am 19. Juni 2020 am kleinen Privatflughafen von Bad Vöslau südlich von Wien in ein Flugzeug stieg, hinterließ er nicht nur die spektakulärste Unternehmenspleite in der Geschichte Deutschlands – sein Verschwinden legte auch eines der größten Sicherheitslecks in der Geschichte Österreichs offen.

Marsalek befindet sich seit mehr als einem Jahr auf der Flucht. Er wird in Russland vermutet.
Foto: EPA / Clemens Bilan

Doch zunächst waren in jenen Juni-Tagen alle Augen auf Wirecard gerichtet: Soeben hatte der Finanzdienstleister eingestanden, dass bilanzierte Guthaben in der Höhe von 1,9 Milliarden Euro vermutlich nicht existieren (siehe unten). Recht bald wurde Chief Operating Officer (COO) Marsalek als Hauptverantwortlicher ausgemacht. Als am 20. Juni ein Haftbefehl gegen ihn ausgesprochen wurde, war Marsalek längst in Belarus untergetaucht – ausgeflogen mithilfe eines früheren Abgeordneten der FPÖ.

Erst nach und nach offenbarte sich, dass der Milliardenskandal Wirecard noch eine ganz andere Dimension haben könnte. Die Verknüpfungen reichen Jahre zurück und lassen nicht nur eine Staatsaffäre in gänzlich neuem Licht erscheinen.

Die BVT-Affäre

Am 28. Februar 2018 durchwühlten Polizisten unter Leitung eines blauen Gemeinderats die Büros des heimischen Verfassungsschutzes (BVT). Nach der Razzia ist das BVT schwer beschädigt: Mitarbeiter sind verunsichert, Partnerdienste verlieren ihr Vertrauen. Zunächst wurde vermutet, dass die Durchsuchung vom damaligen Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) mit dem Zweck orchestriert worden war, das BVT anzugreifen.

Tatsächlich hatten seine Mitarbeiter "Belastungszeugen" gegen das BVT an die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) übermittelt. Deren Aussagen waren ausschlaggebend für die Razzia. Dreieinhalb Jahre später ist von den Vorwürfen allerdings nicht viel übrig.

Stattdessen gerieten einige der Belastungszeugen selbst ins Visier der Ermittler: Anton H. saugte angeblich Smartphones von Spitzenbeamten ab – offenbar um die Daten zu verkaufen. Johannes Peterlik, Ehemann der Belastungszeugin Ria Peterlik, steht im Verdacht, die geheime Formel für das russische Nervengift Nowitschok geleakt zu haben. Die Formel landete bei Wirecard-Boss Marsalek, der mit allen Belastungszeugen direkt oder indirekt in Verbindung stand.

Der Verbindungsmann

Es ist vor allem ein Belastungszeuge, der Marsalek und das BVT verbindet: der ehemalige Staatsschützer Martin W. Dessen Karriere hatte in den 1990er-Jahren bei der Vorgängerorganisation des BVT begonnen, später arbeitete er sich zum Leiter der Abteilung 2 hoch, wo brisante Infos über Nachrichtendienste, Spionageabwehr und die Verbreitung von Nuklear- und Chemiewaffen gesammelt werden.

Im BVT war W. zumindest gegen Ende seiner Dienstzeit nicht sonderlich beliebt. Das beruhte auf Gegenseitigkeit, wie spätere Einvernahmen zeigen. Nach einem Arbeitsunfall im Sommer 2016 ging W. für ein Jahr in Krankenstand. Bei seiner Rückkehr suchte er um Karenzierung an: Er wollte das BVT endgültig verlassen. Dafür bat er 2017 um Termine mit dem Büro Kickl.

Das Konvolut

Zwei Mal traf sich W. mit Kickls Mitarbeitern. Diese sprachen ihn auf Gerüchte über untragbare Zustände im BVT an, die durch ein merkwürdiges Dossier in Wien verbreitet worden waren, das ab Sommer 2017 anonym an Medien, Politik und Justiz gegangen war. Bis heute gibt es den Verdacht, dass das Papier von den späteren Belastungszeugen selbst verfasst wurde – sie bestreiten das.

Auf über dreißig Seiten wurden darin Vorwürfe ausgebreitet; es ging um Korruption, Belästigung und Amtsmissbrauch. Als Kickls Leute mit W. über das Konvolut sprachen, bestätigte er Teile von dessen Inhalt. Wenig später wurde er Belastungszeuge der WKStA und löste durch seine Aussage die Razzia mit aus.

Jan aus dem BVT

Bestens informiert über den Verfassungsschutz war damals auch FPÖ-Klubobmann Johann Gudenus, der später über das Ibiza-Video stolpern sollte. Ein Wiener Unternehmer schickte ihm häufig Nachrichten mit angeblichen Interna aus dem BVT: etwa die genaue Bezeichnung eines Akts, den sich die FPÖ besorgen sollte.

Oder Gerüchte über Leaks aus dem BVT, um der FPÖ zu schaden. Die Infos kämen "von unserem Freund aus den Tiefen des Innenministeriums", schrieb er. Einmal nannte er dabei einen "Jan aus dem BVT" als Quelle. Im BVT gab es jedoch keinen Jan. Dafür einen im Vorstand bei Wirecard.

Die Peterliks

Marsalek war, genau wie Gudenus und sein Chatpartner, in der Österreichisch-Russischen Freundschaftsgesellschaft aktiv. Dort wurde, wenige Wochen nachdem seine Ehefrau Ria Peterlik die Hausdurchsuchung beim BVT mit ausgelöst hatte, Johannes Peterlik als Vorstandsmitglied präsentiert. Dieser befand sich damals auf dem Höhepunkt seiner Karriere, war als Generalsekretär der von der FPÖ nominierten Außenministerin Karin Kneissl der ranghöchste Beamte im Außenressort. Das Ehepaar Peterlik war Gast, als Kneissl im Sommer 2018 bei ihrer Hochzeit mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin tanzte.

Ursprünglich stammt das Paar aus tiefschwarzen Familien: Ria Peterlik ist die Tochter des einstigen niederösterreichischen Vizelandeshauptmanns Ernest Gabmann. Im BVT kursierte das Gerücht, Ria Peterlik sei nur in den Nachrichtendienst gelangt, weil sie eine gute Freundin der damaligen Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) gewesen sei.

Ihr Mann Johannes Peterlik, Sohn eines Diplomaten und Ende der 1990er-Jahre in der schwarzen "Initiative Christdemokratie" engagiert, machte im Außenamt Karriere – mit einem Zwischenstopp als Kabinettschef von Familienministerin Sophie Karmasin (ÖVP), die nun in der Inseratenaffäre Beschuldigte ist.

Die Chemie zwischen den beiden war nicht gut, weshalb Peterlik das Kabinett verließ und in der Kultursektion geparkt wurde, die ihn mäßig interessiert haben soll. Spätestens ab da dürfte seine Unzufriedenheit mit der ÖVP gewachsen sein. Er dockte bei der FPÖ an, wurde als Kabinettsdirektor eines Bundespräsidenten Norbert Hofer genannt. Schließlich wurde Peterlik Vorstand in der Österreichisch-Russischen Freundesgesellschaft – dort wieder war Marsalek Ehrensenator.

München

Martin W. hatte das BVT inzwischen verlassen. Der ehemalige Abteilungsleiter stand nun im Sold von Jan Marsalek in München. Den hatte er 2015 bei einer "Veranstaltung in einem Ministerium" kennengelernt, wie er in seiner Einvernahme angab. Nach seinem Abschied aus dem BVT habe er Marsalek kontaktiert, "wir trafen uns auf ein Gespräch".

Marsalek stellte W. bei der Firma IMS an, die im Umkreis von Wirecard agierte. Marsalek habe dort laut W. "öfter vorbeigeschaut, und wir haben unser freundschaftliches Verhältnis vertieft, indem wir mehrmals die Woche (...) geschrieben haben". W. stellte Marsalek, der eine besondere Begeisterung für das Geheimdienstmilieu gezeigt haben soll, ehemalige Kollegen aus dem BVT vor: etwa Egisto Ott oder Anton H., einen der anderen früheren Belastungszeugen.

Die Informanten

Zu dieser Zeit sollen Ott und H. laut Staatsanwaltschaft (StA) Wien damit begonnen haben, geschützte Informationen zu streuen oder sogar zu verkaufen. H. soll Kopien von Smartphones angefertigt haben, die ihm zur Reparatur überlassen worden waren – darunter etwa jene des langjährigen Kabinettschefs Michael Kloibmüller.

Ott soll im Auftrag von W. Abfragen durchgeführt haben: Er habe von Marsalek Listen mit Namen erhalten und diese an Ott weitergeleitet, erzählte W. den Ermittlern. Dessen Anwalt Volkert Sackmann bestreitet das: "Niemand weiß, um welche Personendaten es sich handeln soll. Insofern ist es meinem Mandanten praktischerweise nicht möglich, sich freizubeweisen."

Es handle sich um ein "Notkonstrukt", um die Ermittlungen zu rechtfertigen. Ott habe seit anderen, nie erhärteten Spionagevorwürfen im Herbst 2017 keinen Zugriff mehr auf BVT-Daten. "Nachdem diese Behauptungen nicht mehr aufrechterhalten werden konnten, fand sich in den Akten plötzlich der Beisatz, mein Mandant habe sich diese Informationen eben beschafft, sprich, er habe andere Beamte zum Amtsmissbrauch bestimmt."

Aktion scharf

Schritt für Schritt versuchen die Ermittler nun, die angeblichen Verbindungen und Informationsflüsse zwischen Ott, W. und Marsalek zu rekonstruieren. Im Jänner 2021 startete die Aktion scharf mit einer Hausdurchsuchung bei Ott. Als seine Kollegen aus dem Innenministerium bei ihm auftauchten, versuchte Ott laut Amtsvermerk die Amtshandlung "mit Gewalt zu hindern, indem er sein am Küchentisch liegendes Mobiltelefon zu zerstören versuchte – und trotz der Aufforderung, es abzulegen, und Versuchen, es ihm abzunehmen, weiterhin an diesem hantierte und sich unter heftiger Gegenwehr loszureißen versuchte".

Ott zeigte die Beamten kurz danach wegen Misshandlung an. Er sei davon ausgegangen, dass seine Kollegen "Schwerstkriminelle" seien, die ihn überwältigen wollten. "Mein Mandant hat nie versucht, sein Handy zu zerstören. Das ist eine falsche Behauptung. Die Aussagen der einschreitenden Beamten widersprechen sich in ihren eigenen Angaben und Berichten", sagt Anwalt Sackmann. "Hier sind mehrere Verfahren wegen Amtsmissbrauchs, falscher Beurkundung im Amt, Freiheitsentziehung und Körperverletzung gegen die einschreitenden Beamten anhängig, und einige der Soko-Beamten werden von der Staatsanwaltschaft als Beschuldigte geführt."

Nowitschok

Die Ermittler werfen Ott hingegen vor, mehrere klassifizierte Dokumente gelagert zu haben – was für Otts Anwalt nicht strafbar ist –, darunter auch Informationen ausländischer Partnerdienste. Seine Smartphone-Chats scheinen nahezulegen, dass er Interna nach außen trug: etwa an den ehemaligen Abgeordneten Hans-Jörg Jenewein, der im BVT-U-Ausschuss die FPÖ vertreten hatte. Deshalb kam es im September bei Jenewein zu einer Hausdurchsuchung.

Auch Johannes Peterlik wird verdächtigt, ein geheimes Dokument der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) weitergegeben zu haben. Dabei handelt es sich um einen Bericht über den Giftanschlag auf den russischen Spion Sergej Skripal im britischen Salisbury. Darin soll auch die Formel für das brandgefährliche Nervengift Nowitschok vermerkt sein.

Peterlik habe diesen Bericht "am 3.10.2018" als Generalsekretär im Außenministerium angefordert, heißt es in den Akten; auf Otts Smartphone findet sich ein Video vom 5. Oktober 2018, in dem das Dokument abgefilmt wird. Laut Metadaten dieses Clips wurde er rund um den Bereich des Wiener Augartens aufgenommen, wo Ott wohnt. Laut Financial Times prahlte Marsalek wenige Wochen später vor britischen Brokern in London damit, im Besitz des Nowitschok-Dokuments zu sein. Im Außenministerium sei deshalb die "Scheiße am Dampfen", sagt ein hochrangiger Beamter mit Blick auf die Ermittlungen.

Libyen

Die Financial Times enthüllte, dass Wirecard-Vorstand Marsalek ein Doppelleben geführt habe: In der Öffentlichkeit trat er als Manager des deutschen IT-Giganten auf, auf Augenhöhe mit den Großen aus dem Silicon Valley. Doch er lebte auch in einer Schattenwelt, wollte in der undurchsichtigen Sphäre zwischen Geheimdiensten und Politik mitmischen.

In Libyen war er an Zementfabriken beteiligt und engagierte Söldner, um sie zu schützen. Vom heimischen Verteidigungsministerium wollte er sich ein "Entwicklungshilfeprojekt" in Libyen fördern lassen. Dem dafür engagierten Experten wurde es rasch zu viel, als er über ein Kulturinstitut in Moskau abrechnen und mit russischen "Experten" vernetzt werden sollte.

Nachdem russische Truppen den syrischen Präsidenten Bashar Assad unterstützt hatten, tauchte Marsalek in der Oasenstadt Palmyra auf, das kurz zuvor noch von der Terrorgruppe IS kontrolliert worden war. Dieser Trip sei nur dann möglich gewesen, wenn Marsalek unter dem Schutz Russlands reiste, sagen Experten.

Verbrannte Erde

Welche Rolle spielt Jan Marsalek tatsächlich? Über die FPÖ versuchte er, bei der Neugestaltung des BVT mitzumischen. Mit dem "Projekt Pyramide" wollte er Ideen für die Flüchtlingskrise präsentieren. In seiner Villa in München war Altkanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) ebenso zu Gast wie der frühere französische Präsident Nicolas Sarkozy. Mit Wolfgang Sobotka ließ sich Marsalek in Moskau fotografieren.

Handelt es sich bei ihm um einen Emporkömmling, der die Nähe zur Macht genoss? Oder stand er im Sold der Geheimdienste? Bei der Aufklärung stehen Nachrichtendienste und Justiz erst am Anfang – auch weil mittlerweile kaum jemand Marsalek gekannt haben möchte. Eines hat er jedenfalls geschafft: Er ist zum gefürchteten Phantom der Geheimdienste geworden. (Fabian Schmid, Renate Graber, Florian Niederndorfer, 29.10.2021)