Der aufgebrachte Kutter Cornelis Gert Jan.

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Ein kurzes Zusammentreffen am Rande des G20-Gipfels in Rom an diesem Wochenende bietet Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron und dem britischen Premier Boris Johnson die Chance zur friedlichen Beilegung ihres jüngsten Fischereistreits. Am Freitag deutete alles auf eine weitere Eskalation hin: Während in Le Havre der Kapitän eines am Mittwoch aufgebrachten schottischen Muschelkutters angeklagt wurde, beklagte sich die Londoner Europastaatssekretärin Wendy Morton bei der französischen Botschafterin Catherine Colonna über die erhitzte Rhetorik aus Paris.

Frankreich hatte am Mittwoch nach monatelangem Streit um Fischereirechte schärfere Kontrollen sowie die Sperrung mehrerer Häfen für britische Boote angekündigt. Am Abend zwang die Küstenwache die im englischen Kanalhafen Shoreham beheimatete Cornelis Gert Jan der schottischen Firma Macduff Shellfish zur Kursänderung auf Le Havre. Dort wurde der Kapitän am Donnerstag mehrere Stunden lang befragt und am Freitag der illegalen Fischerei in französischen Gewässern angeklagt. Beim Prozess im kommenden Sommer könnte er zu einer Strafe von bis zu 75.000 Euro verdonnert werden.

Kompromiss nach langem Streit

Die Einbestellung von Colonna ins britische Außenministerium stellt im diplomatischen Umgang mit engen Verbündeten eine extrem seltene Geste des Unmuts dar. Eine Steigerung hätte darin bestanden, wenn Außenministerin Elizabeth Truss selbst der Botschafterin die Leviten gelesen hätte. Aus Johnsons Amtssitz in der Downing Street hieß es, Frankreich bleibe ein "enger und starker Verbündeter". Bei den Briten herrscht jedoch erheblicher Ärger über die erhitzte Sprache aus Paris. So hatte Europaminister Clément Beaune mitgeteilt, die Brexit-Insel verstehe "nur die Sprache der Stärke".

Die Fangquoten in den artenreichen Gewässern von Nordatlantik und Nordsee gehörten bis zuletzt zu den heftig umstrittenen Themen der Brexit-Verhandlungen. Der Kompromiss vor dem endgültigen Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion zu Jahresbeginn lautete: Die EU-Fischer geben schrittweise über fünfeinhalb Jahre ein Viertel des Wertes ihrer bisherigen Fänge in britischen Gewässern auf. Zudem müssen sie jährlich in London und bei den teilautonomen Kanalinseln Jersey und Guernsey um Lizenzen nachsuchen, sodass sie weiterhin in der Zwölf-Seemeilen-Zone arbeiten können; umgekehrt erhalten britische Fischer Zugang zu den Muschelbänken vor Frankreich. Die individuellen Boote mussten dafür nachweisen, dass sie seit mehreren Jahren im Kanal aktiv gewesen waren.

Gegenseitige Schuldzuweisungen

Im Lauf der vergangenen Monate wurden die Klagen aus Paris immer lauter, die Briten würden sich nicht an die Vereinbarung halten. Während London behauptet, man habe bereits 98 Prozent der beantragten Genehmigungen erteilt, spricht die französische Fischereiministerin Annick Girardin von einer "falschen Zahl": Es fehlten rund zehn Prozent der Lizenzen, "und natürlich geht es um französische Boote".

Regierungssprecher Gabriel Attal teilte am Mittwoch mit, Paris werde nicht zulassen, dass London "die Brexit-Vereinbarung mit Füßen tritt". Von kommender Woche an sollen deshalb über die Fischerei hinaus auch die Kontrollen im Güterverkehr zwischen beiden Staaten verschärft werden. Den scharfen Worten folgten noch am gleichen Tag Taten gegen die Cornelis Gert Jan. Offenbar konnte die Crew ihre eigentlich bestehende Genehmigung zum Fischen in französischen Gewässern nicht nachweisen, erläuterte Juliette Hatchman vom Fachverband SWFPO der BBC. Macduff-Geschäftsführer Andrew Brown bezeichnete sein Boot als Bauernopfer im Streit zwischen den Nachbarn.

Erinnerung an Grenzschließung

Tatsächlich verharrt das französisch-britische Verhältnis derzeit nahe dem Gefrierpunkt. Premierminister Boris Johnson nahm dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron Ende vergangenen Jahres übel, dass dieser mitten in der Corona-Pandemie wegen der hochinfektiösen Delta-Variante kurzzeitig die Grenze sperren ließ und damit kilometerlange Lastwagenschlagen vor den englischen Kanalhäfen verursachte. Später stießen den Briten Macrons unverantwortliche Äußerungen über die angeblich zweifelhafte Effizienz des in Oxford entwickelten Astra-Zeneca-Impfstoffes sauer auf.

Umgekehrt sorgt das über Nacht verkündete Sicherheitsabkommen Aukus zwischen den USA, Australien und Großbritannien in Paris weiterhin für Empörung. Dabei geht es nicht nur um den Verlust eines extrem lukrativen U-Boot-Verkaufes an Australien; mindestens so schlimm wog das Gefühl, man sei von engen Verbündeten hintergangen worden. Während US-Außenminister Anthony Blinken seither diplomatische Anstrengungen unternahm, um die entstandenen Scherben zu kitten, brachte Johnson die Franzosen durch spöttische Bemerkungen nur weiter gegen sich auf.

Kontrollen am Nadelöhr

Im Fischereistreit fiel die Unterstützung der EU für ihr Mitgliedsland bisher höchstens lauwarm aus. Paris aber glaubt sich am längeren Hebel. Tatsächlich bleiben die 8.000 Berufsfischer auf der Insel und die Küstengemeinden, in denen sie beheimatet sind, stark vom Handel mit dem Kontinent abhängig: Von ihren jährlich angelandeten rund 450.000 Tonnen Fisch wurde bisher 70 Prozent entweder frisch oder als Konserve in die EU exportiert, davon knapp die Hälfte nach Frankreich. Die durch den Brexit entstandenen Handelshindernisse haben das lukrative Geschäft schon bisher empfindlich gestört; härtere Kontrollen am Nadelöhr zwischen Dover und Calais könnten ihm den Garaus machen. (Sebastian Borger aus London, 29.10.2021)