Ein Jahr ist der Wiener Terroranschlag her, doch längst nicht alles wurde bisher aufgearbeitet. DER STANDARD geht in einer Dokumentation (Samstag, ab 10 Uhr) auf die Hintergründe ein.

Foto: Heribert CORN

Erst vor ein paar Wochen ist Kewen in ihre neue Wohnung gezogen. In einer Ecke stehen die letzten Umzugskartons. Viele Möbel gibt es noch nicht: eine Couch, ein Regal, ein Stuhl. "Im Moment wünsche ich mir in erster Linie ein bisschen Normalität", sagt die 20-Jährige. Es seien die Abende, wenn es draußen dunkel wird und Ruhe einkehrt: "Dann denke ich mir oft, irgendwie fehlt mir schon die Vaterfigur im Leben." Kewens Vater ist eines der vier Todesopfer des Anschlags von Wien. Am 2. November 2020, drei Minuten nach 20 Uhr, wurde der Restaurantbesitzer tödlich getroffen.

"Ich war an dem Abend selbst in der Nähe und habe die Schüsse gehört", erinnert sich Kewen. Unzählige Male habe sie versucht, ihren Vater zu erreichen. "Dann hat mich unser Koch angerufen und gesagt, mein Vater sei angeschossen worden – aber nur leicht." Eine Notlüge. Die ganze Nacht versuchte die Familie, den Vater in einem Krankenhaus zu finden. Der Anruf kam am nächsten Morgen – von der Polizei.

Florian und Patrick harrten in den Stunden nach dem Anschlag im Keller eines Lokals nahe dem Schwedenplatz aus. Patrick angeschossen, Florian und seine Freunde versorgten die Verwundeten, schnürten mit Gürteln Blutungen ab und legten notdürftig Verbände aus Hemden und Tischdecken an. "Die Verletzung bei mir war ein Durchschuss, dabei wurde die Hauptarterie zerfetzt", sagt Patrick. Schmerzen und Probleme habe er bis heute. "Noch Monate danach hat sich das alles in meinen Träumen lebendig wiederholt", sagt Florian.

Kewens Familie hat vor kurzem ihr Restaurant zum Konkurs angemeldet. "Wir schaffen es nicht, drinnen zu stehen." Reinigen mussten sie es nach dem Anschlag selbst, die öffentliche Hand fühlte sich nur für öffentlichen Grund zuständig. Ihre Mutter ließ Kewen aufgrund starker Depressionen in eine Klinik einweisen.

"Es ist nicht leicht, wenn man plötzlich auch für die Mutter verantwortlich ist", sagt sie. Vom Staat fühlt sich die 20-Jährige alleingelassen. 2000 Euro, einen kleinen Teil der Begräbniskosten und zehn Stunden Psychotherapie hat sie bisher erstattet bekommen, alles darüber hinaus wäre furchtbar kompliziert gewesen. "Keiner ist auf uns zugekommen. Du musst den Behörden selbst hinterherlaufen."

Die Rolle des Staats

Vor kurzem wurde die Einrichtung eines Opferentschädigungsfonds angekündigt, der mit 2,2 Millionen Euro befüllt wird. Den meisten Betroffenen und Hinterbliebenen geht es aber nicht nur um finanzielle Unterstützung. "Bis heute hat sich kein Politiker bei uns gemeldet", sagt Kewen. Nur Bundespräsident Alexander Van der Bellen schrieb einen Brief. Der Entschädigungsfonds sei gut, aber: "Ich will eine Entschuldigung. Dass jemand sagt: Ja, wir haben einen Fehler gemacht", sagt Kewen. Das sei bis heute nicht geschehen.

Nach neun Minuten wurde der Attentäter getötet.
Foto: EPA / Christian Bruna

Um zu verstehen, was am 2. November 2020 tatsächlich passiert ist und welche Rolle Behördenfehler davor spielen, muss man Jahre zurückgehen: in den Herbst 2018. Da wollte der spätere Attentäter nach Syrien ausreisen, um sich dem IS anzuschließen; wurde aber in der Türkei abgefangen und verhaftet. Spätestens mit seiner bedingten Haftentlassung am 5. Dezember 2019 beginnt eine Reihe von Pannen, verpassten Gelegenheiten und Hinweisen, die nicht gesehen wurden.

Der Attentäter nahm beispielsweise bis zuletzt an einem Deradikalisierungsprogramm teil – habe aber seine Betreuer getäuscht, wie Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) später sagen wird. Schon kurz nach seiner Enthaftung versucht der junge Mann, damals gerade 19 Jahre alt, eine Kalaschnikow zu kaufen. Und er ahnte, wer ihm dabei helfen könnte: Ishaq S., mit dem er in Wien-Liesing aufgewachsen war – im Gefängnis trafen die beiden zufällig wieder aufeinander.

Als K. F. entlassen wurde, S. aber ein illegales Handy in seiner Zelle hatte, fragte K. F. ihn, ob er wegen einer Waffe "jemanden kennen würde". Sein Freund machte einen Mithäftling ausfindig – der vermittelte den Tschetschenen Adam M. "Außerdem hat er gesagt, er will einen Anschlag machen am Stephansplatz", wird der junge Ishaq S. über den späteren Attentäter aussagen.

Schon im Juni 2020 soll der Waffendeal über die Bühne gegangen sein – mitten in Wien, vor einem Lokal am Prater. K. F. habe die Waffe in einer Tasche in die Hand gedrückt bekommen und dafür ein Kuvert mit 2500 bis 3000 Euro übergeben. Das sagt Adam M. selbst aus. Er gibt in Einvernahmen auch zu, die Übergabe durchgeführt zu haben, sieht sich aber nur als Vermittler – 500 Euro Provision habe er dafür eingestreift.

International vernetzt

Geht es nach Adam M., soll sein Partner aus Slowenien der wahre Waffenverkäufer sein. Dieser bestreitet das. Weil die Behörden ihm nicht nachweisen können, dass er wusste, was der Attentäter mit der Waffe vorhatte, ist er bis heute auf freiem Fuß. Nur wenige Wochen vor dem Anschlag holt sich K. F. auch Munition von den beiden Männern.

Wieder trafen sie einander in der Wiener Innenstadt für die Übergabe. Ein Munitionskauf in der Slowakei scheiterte zuvor – erst, weil der spätere Attentäter keine Maske trug, dann aber vor allem, weil er keinen Waffenschein besaß.

Kerzen am Ort des Anschlags, sie standen dort wochenlang.
Foto: Imago / SKATA

K. F. war im kriminellen und extremistischen Milieu vernetzt, das steht heute fest. Er pflegte sogar Kontakte in die internationale Jihadistenszene: Breit berichtet wurde nach dem Anschlag über das sogenannte Islamistentreffen im Juli 2020. Dort zu Gast: "Mitglieder der Islamistenbewegung im Raum Winterthur", wie zwei Besucher aus der Schweiz in Ermittlungsakten genannt werden.

"Einschlägig bekannt" war auch einer der zwei deutschen Gäste. Er wohnte während des viertägigen Treffens beim Attentäter in Wien. Und dabei wurden die Burschen observiert. Im Bericht wird festgehalten: Sie fuhren nachts ohne Licht, ihr Fahrstil erweckte teils den Eindruck, sie stünden unter Drogen. Die Männer besuchten einschlägige Moscheen, transportierten Werkzeug zwischen Wohnungen hin und her, übergaben unbekannte Gegenstände.

Sie gingen auch in Restaurants und wie Touristen in den Wiener Prater, fuhren dort mit der Black Mamba und boxten bei einem Automaten. Sie versuchten auch, einen E-Scooter ohne Strom zu fahren. Die Ermittler haben sie aber immer wieder aus den Augen verloren. "Zielperson gerät außer Kontrolle", ist im letzten Observationsbericht vor der Abreise der internationalen Gäste zu lesen – an jenem Abend trifft sich die Gruppe beim wohl engsten Komplizen des späteren Attentäters. Dieser Komplize ist selbst amtsbekannt, seine Familie bezeichnet der österreichische Verfassungsschutz als "islamistisch-fundamentalistischen Clan".

Gesinnung gestärkt

Auch eine Wohnung in St. Pölten stand und steht heute noch im Visier der Ermittler. Mehrmals, zum letzten Mal kurz vor dem Anschlag, war K. F. dort zu Gast, wo sich auch amtsbekannte oder verurteilte junge Männer trafen. Zum Beten und Essen, geben viele von ihnen später in Prozessen an.

Die Ermittler gehen jedoch davon aus, dass dort nicht nur eine "an den Jihadismus anlehnende Auslegung des Korans" verbreitet, sondern auch der spätere Attentäter in seiner Gesinnung bestärkt wurde. Fest steht: Seit dem Anschlag wurde keiner der Burschen wegen der Vorgänge in der Wohnung verurteilt, einige aber wegen anderer Terrordelikte.

"Neun Minuten – Ein Jahr danach": Die STANDARD-Videodokumentation.
DER STANDARD

Wie eng das Netzwerk rund um den Attentäter verwoben war, zeigt sich auch anhand eines anderen Ermittlungsstranges: Monatelang suchten die Behörden nach einem Mann, der ebenfalls in der St. Pöltner Wohnung "speziellen Unterricht" gegeben hat, von Zeugen wird er als "der Wissende" bezeichnet. Identifiziert wird er schließlich als der Bruder jenes Mannes, den die Ermittler für den engsten Komplizen des späteren Attentäters halten.

Das tun sie auch deshalb, weil dessen DNA auf der Waffe gefunden wurde, mit der K. F. den Anschlag ausführte. Wochenlang wohnte der Komplize in der Wohnung von K. F – bis kurz vor dem 2. November. DNA-Spuren deuten darauf hin, dass der spätere Attentäter zu dieser Zeit selbst nur manchmal in der Wohnung war. Den Behörden ist die Verbindung zwischen ihm und seinem Komplizen scheinbar nie weiter aufgefallen.

Gründe des Versagens

Das Versagen hat viele Gründe: etwa dass Beamte offenbar nicht miteinander reden – oder nicht genug. Das illustrieren die Vorgänge rund um den versuchten Munitionskauf in der Slowakei. Schon Monate vor dem Attentat lagen Verfassungsschützern Fotos davon vor.

Doch das Wissen wurde nicht an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet – unter anderem weil K. F. noch "nicht eindeutig" identifiziert werden konnte. Man wartete auf die Bestätigung der slowakischen Behörden. Aus Sicht der Leiterin der Untersuchungskommission zum Terroranschlag, Ingeborg Zerbes, ein großer Fehler.

"Wenn ein Mitarbeiter der eigenen Behörde ihn erkennt, dann muss man für die Risikobewertung nicht warten, bis die Bestätigung aus dem Ausland kommt", sagt die Strafrechtlerin. "Da müsste man sofort sagen, der Verdacht für den versuchten Munitionskauf ist da, und auf diesen Verdacht hin müssen wir die Risikobewertung vornehmen." Diese Überlegungen habe es zwar gegeben. Aber man habe das nicht sehen wollen, kritisiert Zerbes.

Es dauerte noch lange, bis der versuchte Munitionskauf in die Risikobewertung von K. F. einfloss. Erst kurz vor dem Attentat wurde er auf "hohes Risiko" umgestellt – offenkundig zu spät.

Philippe Close ist Bürgermeister von Brüssel – die Stadt wurde 2016 von Anschlägen erschüttert.
Foto: DER STANDARD

Dabei wäre das, das sagen später sogar Beamte in Einvernahmen, auch unabhängig von der Reise in die Slowakei schon viel früher möglich gewesen. Im Sommer 2020 bekam der Verfassungsschutz zudem den Tipp aus einer einschlägigen Moschee, wonach der spätere Attentäter sich ein zweites Mal nach Syrien aufmachen wollte. Das empfand man allerdings als "nicht stimmig", weil man eine Einreise damals aufgrund der Situation dort für "so gut wie unmöglich" hielt.

Fortgeschrittene Radikalisierung

Die Wohnung in St. Pölten hatte der amtsbekannte IS-Sympathisant und mutmaßliche Kontaktmann des Attentäters, Argjend G., bereits kurz nach dem Jihadistentreffen im Sommer 2020 offiziell gemietet. Wie nun aus Ermittlungsakten hervorgeht, beobachtete der Verfassungsschutz schon damals, dass die Wohnung "des Öfteren frequentiert wurde". Trotz dieser Ermittlungen wurde sie erst drei Wochen nach dem Terroranschlag durch die Polizei ausfindig gemacht und durchsucht.

Für die Stadt Wien, die am Freitag einen Bericht über Extremismusprävention im Rathaus präsentierte, war K. F. jedenfalls nicht mehr "greifbar", wie der Autor des Papiers, Nicolas Stockhammer, sagt. Zu fortgeschritten sei die Radikalisierung gewesen, zu tief verwurzelt die Überzeugung des Attentäters, einen Anschlag verüben zu wollen.

Dass er dennoch ein klarer Fall für die polizeilichen und geheimdienstlichen Behörden – ein Fall für den Bund – gewesen sei, liege auf der Hand, davon ist Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) überzeugt. Der Bericht von Ingeborg Zerbes schildere die Fehler der Behörden – dem sei nichts hinzuzufügen. Vom eigenen Präventionskonzept ist und bleibt die Stadt Wien hingegen überzeugt.

Einfach weitermachen

Aber wie hat die Bevölkerung auf die Tat reagiert? Es waren schließlich alle Menschen in Österreich das Ziel dieses Anschlags. Terroristen erhoffen sich, mit ihren Attentaten Angst zu verbreiten, die Gesellschaft so zu terrorisieren, dass Bürgerinnen und Bürger ihren liberalen Lebensstil aufgeben. Ziel von Terror ist auch die vielkritisierte Anlassgesetzgebung, die nach einem Anschlag oft folgt – so wie auch in Österreich.

Die Regierung verkündete daraufhin einen neuen Straftat bestand für Gefährder, den Juristen für unnötig halten. Es kam zu Moscheenschließungen, ein Imamverzeichnis wurde eingeführt. Es sind Maßnahmen, von denen Experten sagen, dass sie genau den erwünschten Zweck erfüllen: So kann sich die Gruppe, in deren Namen der Anschlag verübt wurde, erst recht wieder als Opfer inszenieren und erst recht für ihre Sache rekrutieren.

Edwin Bakker ist Professor für Terrorismusstudien an der Universität Leiden. Er sagt, Terroristen solle man keine Plattform geben.
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Im Falle Wiens war es anfangs vor allem der Ausruf eines Augenzeugen der Terrornacht, der in den ersten Tagen und Wochen der kanalisierten Wut und Unbeholfenheit eine Stimme gab: "Schleich di, du Oaschloch" wurde zum "Je suis Charlie" Österreichs. Täter und Tat wurden mit dem Spruch degradiert, auch wenn er so vermutlich nie gefallen ist: "Oaschloch" – ohne Zusatz – hatte ein Mann aus dem Fenster geschrien, das ist auf Videos dokumentiert.

Für den Terrorismusforscher Edwin Bakker von der Uni Leiden sind es gerade diese unkonventionellen Herangehensweisen an eine Schreckenstat, die fernab von protokollarischen Ritualen eine Stadt wieder zum Leben erwecken lassen können. "Nennt seinen Namen nicht", rät er zudem. DER STANDARD hat das nie getan.

"Einfach sein Leben weiterzuleben ist oft einer der besten Wege, um gegen die Terroristen anzukämpfen", sagt Brüssels Bürgermeister Philippe Close, der in der belgischen Hauptstadt im Jahr 2016 einen Terroranschlag erlebt hat. In Wien war das im Grunde gar nicht möglich: Das Attentat wurde am Tag vor dem Lockdown verübt.

Wir gegen die anderen

Als Paradebeispiel für harte, doch gelungene Integrationsmaßnahmen gilt das belgische Mechelen. Der dortige Bürgermeister Bart Somers ist überzeugt: Es gehe schlussendlich vor allem um gesellschaftlichen Zusammenhalt. Darum, dass man sich nicht auf die "Wir gegen die anderen"-Mentalität einlasse, die Terroristen schüren wollen. Muslime sind für Somers "doppelte Opfer des Terrors" – einerseits hätten sie genauso Angst vor Anschlägen, gleichzeitig müssten sie Repressalien fürchten.

Kewen, deren Vater getötet wurde, will genau das nicht zulassen: "Ich habe keine Angst. Ich habe auch keinen Hass gegen Menschen mit muslimischer Herkunft entwickelt. Jeder Mensch trifft seine Entscheidungen selbst", sagt sie. "Ich werde meinen Hass gegen diese Person nicht auf eine ganze Gemeinschaft übertragen."

Auch Florian, Zeuge und Helfer, ist überzeugt, dass der Attentäter sein Ziel nicht erreicht hat: "Mir hat er gezeigt, dass Menschen in Notsituationen zusammenhalten können", sagt er. "Das hat mir viel Vertrauen in die Menschheit zurückgegeben." (Vanessa Gaigg, Jan Michael Marchart, Katharina Mittelstaedt, Johannes Pucher, Gabriele Scherndl, Fabian Schmid, Fabian Sommavilla, 30.10.2021)