Es ist erst wenige Monate her, da hätten die aktuellen Corona-Zahlen alle Alarmglocken schrillen lassen – rund 6000 dokumentierte Neuinfektionen pro Tag wären Anlass dafür gewesen, dass die Politik jedes verfügbare Mittel einsetzt, um die Pandemie einzudämmen. Noch vor einem halben Jahr hießen die verfügbaren Mittel Lockdown, Ausgangssperre und Kontaktverbot. Heute heißt das verfügbare Mittel Impfpflicht.

Es stünde zur Verfügung, weil es genügend Impfstoff gibt. Aber es wird nicht verfügt.

Eine generelle Impfpflicht wäre der einfachste und kostengünstigste Weg wäre, das Thema Corona endlich von der Agenda zu bringen.
Foto: imago images/Pacific Press Agenc

Weder die Bundesregierung noch die Landesregierungen wollen sich dazu bekennen, dass eine generelle Impfpflicht der einfachste und kostengünstigste Weg wäre, das Thema Corona endlich von der Agenda zu bringen. Daher regieren Hinsichtl und Rücksichtl.

Ja, es gibt Argumente gegen eine Impfpflicht – sie reichen von der Sorge hinsichtlich der Nebenwirkungen bis zum Bürgerrecht auf körperliche Unversehrtheit und einer generellen Ablehnung staatlicher Bevormundung.

Danke, diese Argumente sind bekannt und ausreichend gehört worden.

Gewogen und für zu leicht befunden.

Auch die Argumente, die für eine Impfpflicht sprechen, kann man rasch abklopfen. Sie reichen vom Schutz der derzeit noch Ungeimpften mit einem als sicher erkannten Impfstoff über den Schutz von deren Umgebung bis zur notwendigen Entlastung des medizinischen Systems: Es kann und darf nicht sein, dass Spitäler blockiert werden, weil Schwerkranke mit einer (zumindest in dieser Schwere) vermeidbaren Corona-Erkrankung die Stationen blockieren.

Harmoniebedürftiges Land

Bleibt die Frage, ob ein auf die Freiheit seiner Bürger verpflichteter Staat vorschreiben darf, dass jede und jeder sich impfen lassen muss. Diese Frage ist ja auch nicht neu: Mit der Pflicht zur Pockenimpfung ist sie schon lange beantwortet worden.

Und dann gibt es natürlich auch das Argument der selbstverständlichen Freiheiten für die durch Impfung geschützte Mehrheit der Bevölkerung: Es ist eine Zumutung, dass die weitgehend Geschützten Einschränkungen hinnehmen müssen, weil ja in ihrer Umgebung Ungeimpfte sein könnten. Und dass die Allgemeinheit für die Behandlung der mutwillig ungeimpft erkrankten Corona-Patienten aufkommen muss, ist ein Thema, das die Gesellschaft spaltet.

Dabei sind die Regierungen in Bund und Land gerade darauf aus, die in unserem harmoniebedürftigen Land gefürchtete Spaltung der Gesellschaft zu vermeiden.

Je länger sie das aber behaupteten, desto größer wurde das Unverständnis der Geimpften und der Impfverweigerer für die Argumente der jeweils anderen Gruppe. Jede Rücksichtnahme auf Bedenken der Impfgegner wird von diesen als Bestärkung ihrer Sichtweise empfunden – und verschafft jenen politischen Gruppen Zulauf, die Impfskepsis ins Zentrum ihrer eigenen Politik gerückt haben.

Ja: Wer jetzt eine Impfpflicht fordert, wird diesen Zulauf womöglich noch verstärken. Aber das darf eine verantwortungsvoll agierende Regierung nicht bremsen, sich von Hinsichtl und Rücksichtl zu befreien und die Impfpflicht einzuführen. Nicht durch irgendwelche Hintertürchen und mit weichen Appellen, sondern mit einer soliden gesetzlichen Grundlage. Auch und gerade weil die Impfpflicht umstritten ist, dürfen die Regierenden jetzt nicht feige sein. (Conrad Seidl, 29.10.2021)