Der Kulturwissenschafter Christoph Landerer fordert im Gastbeitrag eine Personaldebatte in der Politik. Eine Karriere als Berufspolitiker fördere Narzissten und schwäche Sachpolitiker. Besser wäre ein pragmatischeres Verhältnis zur Politik.

Zwei Platzhalter im Parlament: SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner und ÖVP-Bundeskanzler Alexander Schallenberg.
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Es mag ein Gerücht gewesen sein, das "ZiB"-Innenpolitikchef Hans Bürger von einem "hochrangigen SPÖler" erfahren haben will – dass es nicht völlig unplausibel klingt, wirft ein Schlaglicht auf den Zustand der Partei: Wäre die Viererkoalition zustande gekommen, dann hätte die SPÖ nicht Pamela Rendi-Wagner zur Kanzlerin gemacht, sondern die Zweite Nationalratspräsidentin Doris Bures.

Bures ist eine der erfahrensten Politikerinnen der Republik, sie war Ministerin in den Kabinetten Gusenbauer, Faymann I und II, in der SPÖ ist sie bestens vernetzt. Rendi-Wagner verfügt über solche Vorzüge nur bedingt. Wäre die neue Koalition unter ihrer Führung im Chaos untergegangen, dann wären rasche Neuwahlen mit einer beschädigten Spitzenkandidatin die Folge gewesen. Das kann sich die SPÖ – angesichts noch immer fehlender personeller Alternativen – nicht leisten. Bures wäre in diesem Fall die Quasi-Platzhalterin für die Verlegenheitslösung Rendi-Wagner gewesen, die selbst nicht sehr viel mehr sein dürfte als eine Platzhalterin für einen noch zu bestimmenden neuen Kandidaten für zukünftige spätere Wahlen.

Unklare Rolle

Noch skurriler ist freilich die Situation der ÖVP. Sie hat – jedenfalls der ursprünglichen Idee nach – einen offiziellen Platzhalter zum Kanzler gemacht, der seine Rolle auf der Bühne offenbar gemeinsam mit dem Altkanzler im Souffleurkasten ausüben will.

Alexander Schallenberg ist kein professioneller Politiker und wird binnen kurzer Frist auch keiner werden, in der ÖVP mit ihrer sehr komplexen Struktur ist er kaum verankert. Schallenbergs Möglichkeiten werden durch seine unklare Rolle in der ÖVP beschränkt, die Kanzlerpartei kann sich zwischen Kontinuität und Neuanfang nicht entscheiden. Die Nervosität ist dem weiteren Verlauf der Chat-Affäre geschuldet, sie gilt dem unsichtbaren Teil des Eisbergs, den die Partei nicht kontrollieren kann. Aber auch die ÖVP hat niemanden, den sie in der Post-Kurz-Ära ins Rennen schicken kann.

Nicht "Familie"

Bleibt Herbert Kickl, der lachende Dritte. Er könnte zum großen Profiteur einer geschwächten ÖVP werden und die politische Ernte der personellen Orientierungslosigkeit auf roter wie türkiser Seite einfahren. Aber auch Kickl sitzt weniger fest im Sattel als es scheinen mag. Innerparteilich ist er ein Bruch mit den Traditionen der FPÖ – er ist weder Burschenschafter noch freiheitlich sozialisiert und kann dadurch nur mit einer begrenzten Hausmacht rechnen.

Nach den Erfahrungen mit den Glücksrittern der Ära Haider wollte die Partei eigentlich verstärkt auf die "verlässlichen Familien" setzen, auf Politiker mit früher freiheitlicher Sozialisation und einer tiefen Verankerung im freiheitlichen Milieu. Manfred Haimbuchner oder Udo Landbauer hätten dieses Kriterium erfüllt, Kickl erfüllt es nicht. Sein Spitzenplatz ist von herzeigbaren künftigen Wahlerfolgen abhängig; bleiben diese aus – etwa durch größere Stimmverluste an die Impfkritikerpartei MFG –, dann ist auch Kickl nicht mehr Obmann der FPÖ. Doch ein Kandidat, der das klassische freiheitliche Anforderungsprofil erfüllt, ist auch in der FPÖ nicht in Sicht.

"In Österreich funktionieren die klassischen Rekrutierungsmechanismen nicht mehr."

Woran aber liegt es, dass sich traditionelle Parteien heute derart ausgedünnt präsentieren? Das Problem ist nicht auf Österreich beschränkt, auch die deutsche CDU steht personell mit leeren Händen da. In Österreich fällt auf, dass die klassischen Rekrutierungsmechanismen nicht mehr funktionieren. Die übliche Politikerkarriere der Zweiten Republik war einigermaßen eng definiert und führte über die Stufen Ausbildung, Parteieintritt, Beruf, parteiliches Engagement zu einem mehr oder minder erfolgreichen Aufstieg in der Parteihierarchie.

Die FPÖ, bis zu Haider im Wesentlichen eine Partei der Rechtsanwälte, Steuerberater und sonstiger freier Berufe mit nationalem Anstrich, hat diesen Kurs als erste verlassen und sich von einer Honoratiorenpartei zu einer Protestpartei umgewandelt, die Glücksritter und Politprofiteure aller Art anzog, nicht wenige davon ohne abgeschlossene Ausbildung.

Auch Kurz und Kickl haben ihre Politkarriere nicht auf einem zivilen Beruf basiert – im Unterschied zu Rendi-Wagner, die dafür kaum in der Partei verankert ist. Beides ist aber von Vorteil, wenn man einerseits erfolgreich Politik betreiben, andererseits aber von ihr nicht abhängig werden möchte. Der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt mag es etwas harsch ausgedrückt haben, aber er hat das Problem erfasst: "Wer keinen Beruf hat, der kann mir gestohlen bleiben." Jene, die einen haben, sind heute Mangelware.

Starke Häme

Dazu kommen die bekannten Umstände, die die Spitzenpolitik mit wenig Attraktivität ausstatten. Die in Österreich schon immer starke Polarisierung hat eher zu- als abgenommen; soziale Netzwerke befeuern diesen Trend, indem sie sich in Hämeplattformen umwandeln. Wer sich rechtzeitig aus der Politik verabschiedet, dem wird dieser Schritt nicht gedankt, sondern als Scheitern ausgelegt – all das schwächt Sachpolitiker und fördert Narzissten.

Auch Kurz hätte sich und seiner Partei einen Dienst erwiesen, hätte er sich sofort und mit den richtigen, staatstragenden Worten und Gesten von der Kanzlerschaft zurückgezogen – für welchen Zeitraum auch immer. Stattdessen gab man ein tagelanges Bestemmtheater mit einer peinlichen Unterschriftengroteske, die das Kabinett schwächt und beschädigt.

Das Publikum, das den Showdown der Protagonisten häufig noch befeuert, ist hier allerdings auch in der Pflicht. Solange sich nicht ein pragmatischeres Verhältnis zur Politik entwickelt und politische Diskussionen mit einem Primat der Sachpolitik geführt werden, wird sich wenig ändern. Aber wir müssen auch lernen, einen Abschied vom Amt als politischen Vorgang zu verstehen, der ohne menschliche Beschädigungen vollzogen werden sollte. Der Ball liegt nicht nur auf dem Feld der Parteien. (Christoph Landerer, 2.11.2021)