Wundern? Ihn selbst wundere gar nichts mehr, sagt Jurist und Forensiker Kristof Wabl, der sich mit Fällen der Wirtschaftskriminalität und ihrer Prävention beschäftigt. Dass so offenherzig gechattet wird in Österreich, das erstaunt ihn aber doch.

STANDARD: Als Forensiker erforschen Sie die dunkelsten Winkel von Unternehmen. Sie haben sich etwa mit Hypo Alpe Adria, Meinl Bank oder im Auftrag der Aufsichtsbehörde FMA mit den Panama Papers beschäftigt. Wie korrupt sind österreichische Unternehmen?

Kristof Wabl plädiert für eine umfangreiche Whistleblower-Regelung. Unternehmen mit Compliance-Problemen sollen externe Compliance-Beobachter einsetzen – so, wie das erstmals in Österreich die Strabag mit Brigitte Ederer gemacht habe.
Foto: Regine Hendrich

Wabl: Aus meiner externen Sicht: Viele österreichische Unternehmen sagen von sich, sie sind superweiß, alles kein Problem. Dabei wird aber verklärt, dass man von vielen Unternehmen gar nicht weiß, was dort alles läuft. Nehmen Sie nur die Commerzialbank Mattersburg …

STANDARD: Wo dreißig Jahre lang Geschäfte erfunden wurden. Wirtschaftsprüfer, interne Revision, Bankaufseher von FMA und Nationalbank sind nicht draufgekommen. Ein Systemversagen?

Wabl: Ich glaube nicht, dass die alle Mist gebaut haben. Solche Fälle, in denen extrem viel kriminelle Energie steckt, sind ein Alarmzeichen, dass vieles nicht passt – und man viel ändern muss. Wichtig ist, dass es jetzt die Europäische Staatsanwaltschaft gibt und eine Europäische Geldwäschebehörde eingerichtet wird, denn man muss die Aufklärung vor allem bei den grenzüberschreitenden Fällen beschleunigen. Die Causa Corona-Maskenhersteller ist ja der erste österreichische Fall, der auch von der Europäischen Staatsanwaltschaft bearbeitet wird.

STANDARD: Was war denn das Aufregendste, das Sie bisher in Ihren 14 Jahren als Forensiker in Sachen Wirtschaftskriminalität erlebt haben?

Wabl: Besonders aufregend ist eigentlich der technische Wandel, der stattfindet. Hätte man die heutigen Möglichkeiten schon vor 15 Jahren gehabt, wären in den österreichischen Wirtschaftskriminalfällen mehr Leute in den Fokus geraten, als es damals der Fall war. Was die Technologie heute kann, sieht man ja am Beispiel Chat-Protokolle. Das Spannende in so einem Krisenfall ist, wie juristisches, technisches und betriebswirtschaftliches Knowhow zusammengeführt werden. Der springende Punkt ist da, dass jene, die die externen Forensiker zur Aufklärung eines heiklen Vorfalls ins Unternehmen holen diesen Außenstehenden voll vertrauen. Sehr oft geht es da ja um Verdachtsfälle.

STANDARD: Unternehmen haben doch selbst Compliance-Abteilungen, interne Revision und IT-Experten im Haus. Wozu externe Forensiker holen?

Wabl: Sehr oft geschieht das, wenn Fälle besonders heikel sind, weil Geschäftsleiter oder andere hohe Manager oder Aufsichtsratsmitglieder involviert sind. Da wird sehr oft externe Hilfe gesucht. Und in den USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland schickt man immer öfter sogenannte Compliance Monitors in Unternehmen: außenstehende, glaubwürdige und politisch hochangesehene Personen, die die Compliance überprüfen und in Zusammenarbeit mit anderen Experten verbessern. Das war etwa im Dieselskandal bei VW der Fall, wo das US-Justizministerium einen Monitor ins Unternehmen geschickt hat. Im Kern geht es darum, nach einem Anlassfall zu eruieren, wie man die Kultur in einem Unternehmen so ändern kann, dass es in Zukunft keine Wirtschaftskriminalität, keine Korruption oder eben Compliance-Probleme mehr gibt.

STANDARD: Das wäre doch auch etwas für Österreich?

Wabl: Gibt es schon: Die Strabag, die ja in die Causa Baukartell involviert ist, hat Brigitte Ederer als Monitor eingesetzt. Ein Novum in Österreich. Dieses Monitoring-Modell wird auch bei uns Fuß fassen, die Bundeswettbewerbsbehörde unterstützt das schon. Man sollte ein Anreizsystem dafür schaffen, statt zu pönalisieren und könnte sagen: Wer ein Monitoring für seine Compliance-Strukturen einsetzt, zahlt geringere Strafen bei Regelverstößen.

STANDARD: Müsste man das gesetzlich verankern?

Wabl: Nein, aber es sollte generell ein Anreizsystem dafür geschaffen werden statt zu pönalisieren. Man könnte sagen: Wer ein Monitoring für seine Compliance-Strukturen einsetzt, zahlt geringere Strafen bei Regelverstößen.

STANDARD: Abseits der Compliance gibt es gesetzliche Vorgaben für Wirtschaftsprüfer. Trotzdem kam es zu Skandalen wie Wirecard in Deutschland, Commerzialbank, Hypo Alpe Adria oder Bawag. Versagen die Wirtschaftsprüfer?

Wabl: Da muss man mit einem Irrglauben aufräumen: Wirtschaftsprüfer fokussieren sich auf größere Positionen, aufs Wesentliche – so, wie es regulatorisch vorgesehen ist. Der Wirtschaftsprüfer muss nicht jeden einzelnen Beleg anschauen, dafür ist er nicht da, dafür hat er kein Budget, nicht die Leute. Er gibt letztlich den Bestätigungsvermerk, mit dem er sagt: Das Unternehmen ist im Wesentlichen frei von Fehldarstellungen. Der beigezogene Forensiker dagegen kommt ins Unternehmen und schaut sich alles an, auch den winzigsten Beleg.

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Fast zwei Milliarden Euro fehlen beim Zahlungsabwickler Wirecard – und lange hat es niemand bemerkt.
Foto: Reuters/Andreas Gebert

STANDARD: Bei Wirecard ging es aber nicht um kleine Belege oder kleine Bilanzpositionen. Da fehlen fast zwei Milliarden Euro.

Wabl: Ja, je mehr grenzüberschreitende Geschäfte es gibt und je mehr Player eingebunden sind, desto komplexer wird es halt auch. Aber deshalb kann man nicht den ganzen Berufsstand der Wirtschaftsprüfer ins Visier nehmen. Wobei: Ich bin kein Wirtschaftsprüfer. Wesentlich ist jedenfalls, dass man den Anlassfall analysiert und schaut, was man besser machen kann.

STANDARD: Stichwort Hypo Alpe Adria, Meinl Bank, Commerzialbank, aber auch die politischen Ereignisse, die durch Chatnachrichten bekannt wurden und werden: Wundert Sie, was in Österreich alles möglich ist?

Wabl: Wundern? Mich wundert nichts mehr. Wobei man sich natürlich schon fragen muss, wie es sein kann, dass manche Unregelmäßigkeiten so lange nicht auffallen und dass der Satz "Jedes Schriftl a Giftl" nicht mehr berücksichtigt wird. Sehr interessant finde ich auch, dass bei Hinweisen auf Fehlverhalten selbst von hochrangigen Managern sehr oft als erste Frage kommt: "Von wem stammt der Hinweis?" Das ist eine Eigenart in Österreich und das ist Wahnsinn. Da geht es gar nicht um das Substrat des Hinweises und um den Missstand, sondern da geht man auf den los, von dem die Information stammt. Ich trete ja sehr für Whistleblower-Regelungen ein – aber trotzdem habe ich schon Leuten, die mich gefragt haben, ob sie einen Missstand in ihrem Unternehmen melden sollen, davon abgeraten. Denn Whistleblower drohen in Österreich oft massive Nachteile: Es ist nicht garantiert, dass diese Person weiterhin unbehelligt Karriere machen, ihr Leben wie bisher weiterführen kann. Der gesetzliche Rahmen sorgt nicht dafür und die Kultur in diesem Land auch nicht. Kommt jemand drauf, dass weder die interne Revision, noch die zuständigen Behörden sorgfältig arbeiten, dann soll sich der an den STANDARD wenden.

STANDARD: Aber sehen Sie da langsam einen Umdenkprozess? Die Causa Commerzialbank flog ja dank der Hinweise eines Whistleblowers auf.

Wabl: Es geht in die richtige Richtung, aber nicht schnell genug. Österreich liegt bei den Befragungen zur Wahrnehmung der Bevölkerung zu Betrug und Korruption im Mittelfeld, ist nicht unter den Besten wie die Skandinavier. Aber warum orientieren wir uns nicht nach oben? Warum sind wir nicht schneller bei der Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie der EU?

STANDARD: Diese Richtlinie zum Schutz von Hinweisgebern sieht vor, dass Privatunternehmen ab 50 Mitarbeitern, alle öffentlichen Unternehmen sowie Regionalverwaltungen und Gemeinden eine interne Meldestelle für Whistleblower einrichten. Das Gesetz muss bis 17. Dezember stehen. Warum ist Österreich da so langsam?

Wabl: 6000 bis 8000 Unternehmen sind betroffen und keines hat eine Ahnung, in welche Richtung das gehen wird. Ich leite bei Transparency International Österreich die Arbeitsgruppe Whistleblowing und höre auch in dieser Funktion sehr oft: "Da geht’s ja nur um Vernadern." Es geht aber eben nicht ums Vernadern, es geht um Aufklärung und darum, in gutem Glauben einen Missstand aufzuzeigen.

STANDARD: Nicht anzunehmen, dass Österreich bei der Umsetzung der Richtlinie mehr als die Mindeststandards umsetzen und Gold-Plating betreibt wie in anderen Bereichen, oder?

Wabl: Ich befürchte nicht. Österreich wird die Mindeststandards ins Gesetz übernehmen und damit eine große Chance vertun.

STANDARD: In den USA zahlt eine Aufsichtsbehörde einem Exmitarbeiter der Deutschen Bank, der als Whistleblower den Skandal um Zinsmanipulation aufdecken half, die Rekordprämie von 200 Millionen Dollar. Sollen Whistleblower bezahlt werden?

Wabl: Warum denn nicht? Ich habe einmal vorgeschlagen, einen Preis für öffentlich bekannte Whistleblower auszuschreiben, um Leute vor den Vorhang zu holen. Da hieß es nur: "Der spinnt schon wieder, der Wabl."

Die frühere Facebook-Produktmanagerin Frances Haugen packte heuer als Whistleblowerin gegen Facebook aus. Sie übergab der US-Börsenaufsicht SEC und dem "Wall Street Journal" interne Dokumente.
Foto: AFP/Akmen

STANDARD: Banken sind ja besonders streng reguliert, trotzdem gibt es immer wieder Skandale und Geldwäschefälle. Was passiert da wohl alles in anderen, weniger beaufsichtigten Branchen?

Wabl: Europol sagt, dass in der EU maximal zwei Prozent der Profite aus der organisierten Kriminalität beschlagnahmt werden. Gleichzeitig investieren Finanzinstitute aber jedes Jahr hunderte Millionen Euro in Systeme zur Geldwäschebekämpfung. Die Präventionsmethode in dieser am strengsten regulierten Branche ist also komplett ineffektiv. Da können Sie sich vorstellen, was alles in anderen Branchen läuft oder zumindest laufen könnte. (Renate Graber, 2.11.2021)