Terror ist Polarisierung. Die Emotion, die einem Attentat folgt, erleichtert Pauschalurteile. Umso wichtiger sind differenzierte Analysen. Eine solche hat Ingeborg Zerbes, Leiterin der Terrorkommission, ein Jahr nach dem islamistischen Anschlag von Wien in der "Zeit im Bild 2" angeboten.

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Ihr – bekannter – Befund: Den einen Fehler hat es nicht gegeben. Den Fehler nämlich, dessen Vermeidung den Anschlag unmöglich gemacht hätte. Das mag von manchem Verantwortlichen für die Behauptung missbraucht werden, dass ja quasi nichts schiefgelaufen sei. Dabei ist Zerbes' Analyse viel vernichtender: "Hier ist Schlamperei passiert – und ein systemisches Versagen." Das wirkt beim ersten Hören weniger stark, als wenn sie einen einzelnen Schuldigen gefunden hätte. Aber wenn es darum geht, das Land sicherer zu machen, ist das Aufzeigen struktureller Probleme mächtiger als das Ausmachen eines Sündenbocks.

Differenzierte Bewertung statt Pauschalurteil

Entsprechendes Gewicht kommt damit auch Zerbes' Einschätzung zur Neuaufstellung des Verfassungsschutzes zu. In der neuen Struktur der künftigen "Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst" sieht sie "noch nicht den großen Gewinn", was die Verhinderung künftiger Terrorakte betrifft.

Die Strafrechtlerin gewinnt an Glaubwürdigkeit, weil sie die Dinge eben differenziert bewertet, statt sie pauschal zu beurteilen. Der Polizeieinsatz in der Terrornacht selbst sei etwa "geglückt" und zeuge "von hoher Professionalität". Und dass ihre Kommission wegen der politischen Vorgaben unter hohem Zeitdruck Ergebnisse liefern musste, hätte zwar eine tiefergehende Analyse verhindert – gleichzeitig sei aber verständlich, dass man die Bevölkerung nicht noch länger auf Antworten warten lassen wollte.

Zutreffende Überschrift, wohltuende Nuancen

Das Behördenversagen im Vorfeld des Anschlags vor einem Jahr ist eklatant, empörend und trifft als Überschrift zu. Dennoch wirkt Zerbes' ruhige Einordnung in ihrer Nuanciertheit wohltuend – auch eine solche Differenzierung ist möglich. (Sebastian Fellner, 2.11.2021)