"Freund" und "amie": Emmanuel Macron und Angela Merkel haben die deutsch-französische Achse zuletzt vertieft. Nun droht dieser Ungemach.

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Einmal wirkte die stoische Kanzlerin fast ein wenig charmiert, als sie 2017 den frisch gewählten, erst 39-jährigen Präsidenten zu dessen Antrittsbesuch in Berlin traf. "Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne", zitierte sie Hermann Hesse. Merkel und Macron, das war für die Pariser Medien "M&M", süß wie die Schokomarke.

Vier Jahre später sind die Franzosen immer noch von der Kanzlerin eingenommen. 75 Prozent – ein Wert, von dem andere, namentlich französische Politiker nur träumen – schätzen sie für ihr respektvolles Verhalten und ihre "Vertrauenswürdigkeit". Die französische Merkel-Biografin Marion Van Renterghem sagt, ihr erstes Gefühl für die Kanzlerin sei "Bewunderung".

Macron wird seine "Freundin", wie er sie fast selbstverständlich nennt, am Mittwoch in Beaune zu einem privaten Abschiedsessen mit den jeweiligen Ehepartnern empfangen, eingeleitet durch ein Klavierkonzert. Der Ort ist symbolisch: In dem von Weinbergen umgebenen Burgunderstädtchen hatten sich 1993 schon Helmut Kohl und François Mitterrand getroffen. Merkel wird die für sie höchstmögliche Auszeichnung der französischen Ehrenlegion, das Großkreuz, erhalten. Und zweifellos jede Menge von Sympathiebekundungen. "Es ist bewegend, diese große Kanzlerin zu ihrem letzten Auslandbesuch hier zu begrüßen", sagt der Bürgermeister von Beaune, Alain Suguenot.

Wie England ohne die Queen

Er ist nicht der Einzige, der in Frankreich bewegt ist über den Abgang, ja Verlust einer Kanzlerin, die vier französische Präsidenten erlebt hat. Deutschland ohne Merkel, das ist für die Franzosen wie England ohne die Queen: undenkbar. Gar beunruhigend. Denn was wird nun, nach 16 Jahren mit einer verlässlichen Kanzlerin, aus der so zentralen und so komplexen deutsch-französischen Beziehung?

Gewiss, Frankreich war nicht immer begeistert über Merkels wegweisende Entscheide – weder zum Atomausstieg noch zur Grenzöffnung für Migranten. Doch mit der Kanzlerin gab es nie offenen Zoff, etwas, was für die streitbare gallische Seele schon fast an ein Wunder grenzt. Warum, beschreibt der Pariser Geschichtsprofessor Sylvain Kahn: "Während 16 Jahren hat sie es mit Talent und Erfolg geschafft, ihre französischen Partner nie zu kränken, den EU-Kern nie zu zerreißen."

"Mutti", wie sie auch in Paris mit nur ganz leichter Ironie genannt wird, wusste eben, wie sie die wichtigen Männer im Élysée-Palast nehmen musste. Jacques Chirac, der erste Präsident, den sie ab 2005 im Amt erlebte, mochte sie nur per galanten Handkuss begrüßen. Da war nichts von dem ruppigen Ton, mit dem er und Vorgänger Gerhard Schröder in Agrarfragen aneinandergeraten waren.

Krisen gemeistert

Mit Nicolas Sarkozy (ab 2007) und François Hollande (ab 2012) konnte Merkel weniger. Vielleicht auch, weil sie ihnen auf Dauer überlegen war: Weder der impulsive Gaullist Sarkozy noch der taktisch unbedarfte Sozialist Hollande vermochten die Pfarrerstochter umzustimmen, wenn sie den Fuß wieder einmal aufs Bremspedal hielt. Aber auch aus den gravierenden Finanzkrisen wie der griechischen fanden sie zum Schluss stets einen gangbaren Weg.

Ihrem letztem Gegenüber Macron machte Merkel ein gewichtiges, aus ihrer Sicht allerdings nur "provisorisches" Zugeständnis: 2020 gab sie ihren monatelangen Widerstand auf und billigte die gemeinsame Aufnahme von Covid-Milliardenkrediten. Auch diesmal ging es ohne Nervendrama ab – obwohl Deutschland in diesen EU-Krediten einen Dammbruch sieht und sogar einen ersten Schritt hin zu einer eigentlichen europäischen Schuldenunion.

Macron nimmt dieses Wort nicht in den Mund, solange in Berlin die Koalitionsverhandlungen laufen. Danach wird er aber Druck machen. Zur Frage neuer Schulden bespricht er sich bereits mit dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi. Mit Polen hofft er eine Lobby der Atombefürworter zu zimmern, mit den Niederländern den Ansatz einer echten europäischen Verteidigung.

"Europäischer Leader"

Das liberale Pariser Institut Montaigne glaubt, dass das deutsch-französische Tandem dem Präsidenten im Élysée "nicht mehr genügt". Und wie das Pariser Wirtschaftsblatt "La Tribune" anfügt, werde Macron den Abgang Merkels von der politischen Bühne benützen, um sich als "europäischer Leader" in Szene zu setzen.

Das Timing passt: Frankreich übernimmt im kommenden Halbjahr den EU-Vorsitz. Und bei den Präsidentschaftswahlen im April 2022 wird Macron zweifellos wieder kandidieren. Er spielt bereits mit brisanten Ideen, etwa der Aufhebung der Defizit- und anderer Maastricht-Regeln im Euroraum. In Berlin hüsteln die Finanzpolitiker hörbar. Paris stört sich seinerseits daran, dass die neue Koalition in Berlin den Bundeswehrbestand nicht ausbauen will. Da lauert viel Konfliktstoff.

Auch wenn der britische EU-Austritt Deutschland und Frankreich zusammengeschweißt hat: Den beiden europäischen Kernnationen mangelt es nicht an tiefgehenden Differenzen, und es ist anzunehmen, dass sie nun offener, viriler ausgetragen werden als in den letzten 16 Jahren. Dem deutsch-französischen Paar könnte bald eine Frau fehlen – und damit eine schlichtende Komponente. Die TV-Bilder der regelmäßigen Pressekonferenzen vor blau-weiß-roter und schwarz-rot-goldener Fahnenkulisse werden nun wieder männerdominiert sein.

Die Kanzlerin kann sich deshalb sicher sein: Das Bedauern, das die Franzosen beim Abschiedstreffen in Beaune wortreich zum Ausdruck bringen werden, ist sehr aufrichtig gemeint. (Stefan Brändle aus Paris 2.11.2021)