Eine Covid-19-Impfstoff-Lieferung über die Initiative Covax für den Sudan wurde im Oktober in Khartum vorbereitet. Insgesamt läuft das Programm viel schleppender als geplant.

Foto: AFP / Ebrahim Hamid

Knapp zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie wurden rund 6,8 Milliarden Impfdosen gegen Covid-19 verabreicht. Diese enorme wissenschaftliche und logistische Leistung wird durch einen genaueren Blick auf die Zahlen getrübt: Nur rund drei Prozent der Impfungen gingen an Länder mit geringem Einkommen. In Liberia oder der Demokratischen Republik Kongo sind gerade einmal 0,1 Prozent der Bevölkerung geimpft – auch weil Impfstoff knapp ist.

Zuletzt sprachen sich die 20 großen Industrie- und Schwellenländer beim G20-Gipfel in Rom dafür aus, Impfungen in Entwicklungsländern zu beschleunigen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO sowie Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen prangern die Ungerechtigkeit beim Zugang zu Impfstoffen seit Monaten an. Sie führe zu einer Verlängerung der Pandemie.

Fünfpunkteplan

Mitte Oktober veröffentlichte der Generaldirektor der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, einen Fünfpunkteplan, der für eine gerechtere Impfstoffverteilung sorgen soll. Das Verhalten der reichen Nationen, die Impfstoffvorräte aufbauen und mit Auffrischungsimpfungen starten, bezeichnet er darin als "moralisch verwerflich und epidemiologischen Wahnsinn".

"Impfstoffe sind der Königsweg raus aus der Pandemie", sagt Jürg Utzinger, Direktor des Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Institut, "die Pandemie ist folglich erst dann beendet, wenn alle Menschen mit Impfstoffen versorgt wurden." Zudem sei eine schnelle Durchimpfung zentral, um neue Virusvarianten zu verhindern.

Tedros fordert von den reichen Nationen, ihre Zusagen einzuhalten und Lieferungen an Covax zu unterstützen. Die Initiative der WHO und der Impfstoffallianzen GAVI und CEPI soll sicherstellen, dass alle Länder gleichberechtigt Zugang zu Covid-19-Impfstoffen haben.

Solidarische Idee

Die Idee hinter Covax war überzeugend: Alle Staaten der Welt bilden eine Solidargemeinschaft, in der die reichen für die armen mitbezahlen. Mit dem Geld werden Impfstoffe für alle gekauft und gerecht verteilt. Der Plan misslang jedoch, weil die reichen Nationen auch direkte Lieferverträge mit den Herstellern abschlossen, als die Impfstoffe noch in der Erprobung waren: So unterzeichneten die USA sieben Verträge, die Schweiz zwei und die EU sicherte sich eine halbe Milliarde Dosen. Diese Länder wurden bevorzugt beliefert, was es für das Covax-Programm bis heute schwierig macht, Impfdosen zu erhalten.

Bislang hat Covax nur rund 406 Millionen Impfstoffe in 144 Länder ausgeliefert. Eigentlich sollten es bis Ende des Jahres weltweit etwa zwei Milliarden sein, kürzlich korrigierte die Initiative die Zahl auf 1,4 Milliarden herunter, wegen Export- und Produktionsproblemen und langsamer Genehmigungsverfahren.

"Man hätte sich gewünscht, dass es robustere und bessere Mechanismen gäbe, um mit anderen Ländern zu teilen", sagt der Virologe Wolfgang Preiser von der Universität Stellenbosch in Südafrika, "das Scheitern von Covax ist ein Armutszeugnis für die moderne Welt."

Impfziele

Nach den Impfzielen der WHO sollen bis Ende dieses Jahres 40 Prozent der Bevölkerung aller Länder vollständig geimpft sein, bis Mitte 2022 70 Prozent. Dazu braucht es mindestens elf Milliarden Dosen Covid-19-Impfstoff.

Dass sich die Lage in Zukunft entspannen wird, glaubt Uğur Şahin, der Mitgründer des Pharmaunternehmens Biontech. "Spätestens 2022 wird es genug Impfstoff für jeden Menschen auf der Welt geben. Wir haben unsere Produktionskapazitäten enorm steigern können. Heuer werden wir in der Lage sein, drei Milliarden Dosen über unser Netzwerk herzustellen, und im nächsten Jahr halte ich vier bis fünf Milliarden Dosen für machbar. Auch anderen Anbietern ist es gelungen, ihre Produktionsprobleme zu überwinden", sagte Şahin dem Spiegel.

Tom Frieden, der ehemaliger Direktor der US-Gesundheitsbehörde CDC, zweifelt indessen an einer bevorstehenden Impfstoffflut. Etwa die Hälfte der weltweit bereits verabreichten Dosen sei mit den weniger wirksamen Impfstoffen von Sinopharm und Sinovac vorgenommen worden, was laut Frieden zu Problemen führen werde, wie er zuletzt in der Washington Post betonte: "Menschen, die mit weniger wirksamen Impfstoffen geimpft wurden oder mit Impfstoffen, deren Schutz nachlässt, insbesondere gegen Varianten, benötigen Auffrischungsimpfungen."

Debatte über dritten Stich

Vor diesem Hintergrund ist eine hitzige Debatte über Auffrischungsimpfungen in Gang gekommen, die der WHO-Direktor für Notfälle, Mike Ryan, kürzlich mit folgenden Worten drastisch veranschaulichte: "Ein drittes Mal zu impfen ist so, als würde man jemandem, der bereits eine Schwimmweste hat, eine weitere Rettungsweste geben, während daneben gerade jemand ertrinkt."

Viele Experten sehen das etwas differenzierter: "Risikogruppen wie Ältere und immungeschwächte Personen sollten eine Auffrischung bekommen, sobald diese von den zuständigen Behörden bewilligt wurde. Aber sie breitflächig ab zwölf Jahren einzuführen ist zur Zeit – mit Blick auf die ganze Welt – absolut inkorrekt", sagt Utzinger. "Es ist jetzt zentral, dort voranzukommen, wo noch nicht geimpft wurde."

Niederschwellige Angebote

Es sei aber nicht nur eine reine Frage der Impfstoffmenge, wie Preiser betont. In Südafrika sind nur rund 18 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft. Es könnten mehr sein, denn mittlerweile steht ausreichend Impfstoff zur Verfügung. "Genügend Impfstoff ist eine Voraussetzung. Aber es braucht auch eine funktionierende Logistik, Aufklärung, niederschwellige Angebote und Vertrauen in den Staat." Man könne daher nicht pauschal sagen, dass eine Auffrischungsimpfung in der EU automatisch einem Menschen in einem Entwicklungsland die Impfung wegnehme.

In einem Punkt stimmen alle überein: Um die Länder des globalen Südens unabhängiger zu machen, vor allem jene in Afrika, müssen die Produktionskapazitäten dort ausgeweitet werden. Die Pharmakonzerne stehen mittlerweile unter großem Druck, auf Patentrechte zu verzichten, um die Produktion in jenen Regionen zu fördern, die um Impfstoffe ringen.

Derweil verfolgt das WHO-Zentrum für Technologietransfer in Kapstadt die Entwicklung eines eigenen mRNA-Impfstoffs für Afrika. "Wenn wir Moderna oder Biontech dabeihätten, könnten wir in 18 Monaten einen zugelassenen Impfstoff entwickeln. Ohne sie wird es drei, vier Jahre dauern", sagt Friede.

Möglicherweise werde dann keine Notwendigkeit mehr für die Produktion eines Covid-Impfstoffs bestehen. "Wenn wir jedoch auf die nächste Pandemie warten, um mit dem Bau von Anlagen in diesen Ländern zu beginnen, wird es wieder einmal zu spät sein", sagt Friede. "Wir müssen jetzt bauen, um für die Zukunft gerüstet zu sein." (Juliette Irmer, 8.11.2021)