In Chania, im Nordwesten Kretas, findet man, was man in der reisefreien Zeit so sehr vermisst hat: südeuropäische Lebensfreude.

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Am besten hat Nikos Tsepetis der Kaiserschmarren im Gasthaus Ubl geschmeckt. Begeistert zeigt der 52-Jährige die Handyfotos seiner wenige Wochen zurückliegenden Wienreise vor. Offizieller Anlass war die Ausstellung eines Freundes im Mak, inoffizieller eine gastronomische Recherche. Es ist nämlich so: Tsepetis, ein über zwei Meter großer Mann mit glattrasiertem Schädel und einer Vorliebe für Tennisschuhe und rosa T-Shirts, liebt Süßes und möchte auf die bestmögliche Ware zurückgreifen können.

Gut für die Gäste des Ammos, eines im Nordwesten Kretas gelegenen Hotels mit jenen schlagobersweißen Fassaden und meerblauen Fliesen, die Mitteleuropäer so treffsicher mit einem Griechenlandurlaub verbinden. Eher ungewöhnlich hingegen mutet der Hauptraum an, der Rezeption, Lounge und Schlechtwetterfrühstückssaal zugleich ist. Keiner der dort verteilten Stühle gleicht dem anderen, manche sind mehr Kunstobjekt als Sitzgelegenheit.

Die Detailverliebtheit setzt sich in den 33 Zimmern fort. Vom Balkon geht der Blick unverstellt aufs um diese Zeit mitunter stürmische Mittelmeer. Das Ammos ist ein guter Ort für Ästhetikerinnen und Backwarenfans, aber auch für Familien. Noch Anfang Oktober ist das Hotel voll gebucht. Das liegt wohl nicht nur an Durchschnittstemperaturen von 23 Grad.

Beiläufige Lebenslust

Mit Impfzertifikat und ausgefülltem Gesundheitsformular geht die Reise nach Chania. Rund 50.000 Einwohner hat die im Norden gelegene ehemalige Hauptstadt Kretas, die diesen Status erst 1971 an Iraklio verlor. Ihr eigentliches Zentrum hat etwas von einer ganztägigen Rushhour: hupende Motorräder, manövrierende Taxis und vor Cafés dösende Pensionisten, alles also, was man an Südeuropa in der reisefreien Zeit so sehr vermisst hat.

Fotogener und gleichzeitig touristischer wird es Richtung Hafen. Manche zwischen den sorbetfarbenen Häuschen gelegene Gassen sind so schmal, dass sich Fragen nach dem Mindestabstand erübrigen. Rund ein Drittel der Altstadt wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört und steht nach dem Wiederaufbau unter Denkmalschutz.

Neben den unvermeidbaren Ledersandalen- und Leinentuchshops beherbergen manche dieser Gassen Puppenstubenpatisserien wie Sketi Glyka, wo es zum Grießkuchen mit Pistazieneis eine Lehrstunde in griechischer Mythologie gratis dazugibt. Tatsächlich kann man in Chania, anders als an vielen anderen "Reiseführer-Orten", Menschen beim Leben zusehen, beim Wäscheaufhängen und Mythos-BierTrinken auf dem baumumstellten Splantzia-Platz, beim Rasten mit Hafenblick auf das Kretische Meer und den im 16. Jahrhundert von Veneziern errichteten Leuchtturm.

Stolz und rebellisch

Es ist diese Art beiläufige Lebenslust, die Alexandra Manousakis dazu bewog, den umgekehrten Weg ihres Großvaters zu gehen, der 1912 von Kreta in die Vereinigten Staaten aufbrach. Sie selbst verließ vor vierzehn Jahren ihren damaligen Wohnort New York, um das elterliche Weingut zu übernehmen, auf einer Insel, die sie bis dahin kaum gekannt hatte.

Kreta vergleicht sie gerne mit Texas, ähnlich stolz, ähnlich rebellisch. Inzwischen gehört Manousakis’ gleichnamiges Weingut zu den erfolgreichsten biologisch wirtschaftenden Betrieben der Region. Einige ihrer Erzeugnisse gehen auch nach Österreich.

Wer sich direkt auf dem fünfzehn Kilometer vor Chania gelegenen Weingut mit dem autochthonen Romeiko oder dem nach Honigwaben duftenden Vidiano eindeckt, bleibt am besten gleich zum günstigen und guten Mittagessen unter Avocadobäumen sitzen. Die Leitung des Familienguts macht allerdings nur die Hälfte von Manousakis’ beruflicher Tätigkeit aus. Die zweifache Mutter bemalt lokal produzierte Keramik in einem unverkennbaren, humorvoll die ästhetischen Konventionen der Region brechenden Stil.

"Modern Greek"

Dass sie auch ein Händchen für Raumausstattung hat, beweist ein Blick in ihr noch im Bau befindliches Bistro. Das direkt an der Strandpromenade von Chania gelegene Maiami – der Name ist die lautmalerische Entsprechung von Miami – begeistert mit einer massiven Holzbar, azurblauen Stühlen und einem knallgrünen Kamin.

Im hinteren Teil des Lokals wird, durch Glas abgetrennt, ein Atelier entstehen. Essen wird es dort auch geben, und zwar ausschließlich Manousakis’ Lieblingsgerichte wie Spinat-Artischocken-Dip oder Wassermelonensalat.

Nicht ganz das, was wenige Meter entfernt im Salis auf den Tisch kommt. Als "Modern Greek" bezeichnet man die Kombination der Fischrogenpaste Taramosalata mit Avocado oder den Nudelauflauf Pastitsio mit Trüffeln und kräftigem Graviera-Käse, und wirklich alles ist köstlich, bis hin zu den Desserts, bei denen Chefkoch Afshin Molavi – Alexandra Manousakis’ Ehemann – mit seinen persischen Wurzeln spielt. Als Nächstes will das Paar einen Hinterhofimbiss eröffnen, mit Craft-Bier und Souvlaki – noch ein Grund, in der nächsten Saison wiederzukommen.

Aus der Zeit gefallen

Selbst dann gelänge es einem wohl kaum, die vom Ammos-Hotel bereitgestellte enorme Liste an gastronomischen Tipps abzuklappern. Das erst kürzlich eröffnete Matzénta kuzina del sol beispielsweise, das kretische mit mexikanischer Küche kombiniert. Die Eintöpfe bei Kouzina Epe, der gegrillte Oktopus bei Kaiki oder das vegetarische Moussaka bei Well of the Turk.

Wer ein Auto hat – was sich stark empfiehlt –, sollte sich nicht das Dounias entgehen lassen. Schon der Weg über olivenbaumgesäumte Serpentinen ist ein Erlebnis. Ziel ist ein aus der Zeit gefallenes Bergdorf, vor dessen einzigem Gasthaus Schnecken und Lammfleisch über offenem Feuer garen.

Große Pläne

Abgesehen davon füllt sich der neben einen offenen Kamin gestellte Tisch mit gereiftem Mizithra-Käse, butterweichen Auberginen und dem, was hier als griechischer Salat bekannt ist, Gurken, Tomaten, schmelzender Feta. Patron Stelios Trilirakis gibt einem das Gefühl, Gast bei ihm zu Hause zu sein. Wie an so vielen Orten spürt man hier die Erleichterung darüber, dass es wieder loszugehen scheint mit dem Reisen.

Warum also diese Energie nicht nutzen? Ammos-Betreiber Tsepetis hat für die kommenden April beginnende Saison große Pläne. Im Herzen Chanias will er eine Bäckerei eröffnen, aus dem einfachen Grund, dass es nirgends auf der Insel ein Sauerteigbrot gibt, das seinen Vorstellungen entspricht. Was es sonst noch geben soll im Red Jane? Mandelcroissants, Weiße-Schokolade-Brioche, Ladokoulouro genannte Olivenkekse – und Scheiterhaufen, und zwar nach Wiener Vorbild. (Eva Biringer, RONDO, 8.11.2021)