Es ist sinnlos, Bart Somers um kurze Antworten zu bitten. Er holt gerne weit aus, reißt seine Augen auf, um seinen Antworten noch mehr Nachdruck zu verleihen, und er muss stets auch noch die zweite Hälfte jener Doppelstrategie ansprechen, mit der er die 90.000-Einwohner-Stadt Mechelen von der dreckigsten und unsichersten Stadt Belgiens zum herausgeputzten Vorzeigemodell für Integration und Ex tremismusprävention machte.

Wir treffen Somers in seinem Büro in Brüssel, um für die STANDARD-Terrordoku 9 Minuten, ein Jahr danach mehr über seine Erfolgsrezepte zu erfahren. Vor rund zwei Jahren wechselte der langjährige Mechelener Bürgermeister als Integrationsminister für die Region Flandern in die Hauptstadt. Interimistisch war er für die flämischen Liberaldemokraten 2003 auch schon ein Jahr lang Ministerpräsident.

Kurz erklärt ist Somers Politik ein Zusammenspiel aus polizeilicher Überwachung und wirklich ernst gemeinter Integration. Er ist guter und böser Cop in Personalunion und überzeugt: "Nur wenn du die beiden Strategien kombinierst, kannst du deine Stadt besser schützen." Aber kurz geht bei Somers eben nichts, also die Langfassung.

Liberaler Ex-Kommunist

Bartolomeus "Bart" Somers ist 57 Jahre alt und gebürtiger Mechelener, genau so wie die 14 Generationen vor ihm. Er aber sei der letzte seiner Familie, der in einem monokulturellen Mechelen aufwuchs, betont er. Zu viel hat sich zuletzt gewandelt, zu viele neue Bewohnerinnen und Bewohner seien dazugekommen. Knapp 140 Nationalitäten sind es mittlerweile. Jedes zweite Neugeborene hat mittlerweile Mi grationshintergrund. An diese neue Realität gelte es sich anzupassen, sagt Somers. Er habe sich als Vater an die Elternschaft angepasst, als Politiker an das Zeitalter der sozialen Medien, und nun passe er sich als Bürger und Bürgermeister eben auch der superdiversen Gesellschaft an, die seine Stadt auszeichnet.

Die STANDARD-Doku über die Folgen und Nachwirkungen des Terroranschlags. Wie konnte es soweit kommen? Wie geht es den Opfern? Wie könnte Vergleichbares in Zukunft verhindern werden?
DER STANDARD

Somers hat auch sich und seine politische Gesinnung angepasst. Doch seine frühen Jahre beeinflussen ihn noch immer. Als Jugendlicher, erzählt er, da habe er mit dem Kommunismus geflirtet, die Polizei und den staatlichen Sicherheitsapparat abgelehnt, den liberalen Sichtweisen seines Vaters zunächst nicht immer folgen können. Seine Clique habe Polizisten provoziert und deren zum Teil brutale Reaktionen dafür genutzt, die eigene Ablehnung gegen die Uniformierten erst recht zu vertiefen und andere Jugendliche für ihre Sache zu gewinnen.

Im Grunde habe man die heutige Terroristenstrategie fürs Rekrutieren benutzt: Anschläge im Namen einer Sache begehen. Und anschließend den anderen sagen: "Schaut her, sie geben euch die Schuld, wieder seid ihr allein die Schuldigen."

Eine gemeinsame Anstrengung

Somers hält nichts von diesem Blame-Game. Gefragt nach den wichtigsten Rezepten zur Extremismusprävention, sagt er immer wieder, dass es ein neues "Uns" brauche, kein "Wir gegen die anderen". "Ein Individuum ist für seine Taten verantwortlich, nicht eine Gruppe", sagt er. Diese individualistische Sicht zieht sich durch seine Politik. "Das muss man sich von Fall zu Fall anschauen", ist wohl der zweitliebste Satz des heutigen Liberalen.

Für erfolgreiche Integration braucht es alle, nicht nur die Neuankömmlinge, betont er.

Wer durch Mechelen spaziert, dem fällt es vielleicht nicht auf den ersten Blick auf, aber auf den zweiten. Man sieht und hört überall, dass man in einer multikulturellen Stadt unterwegs ist – anders als in Brüssel, wo Menschen, die die Brücke vom Stadtzentrum ins vermeintliche Problemviertel Molenbeek oder umgekehrt nehmen, in eine neue Welt eintauchen. Mechelen dagegen wirkt konstant multikulturell.

Burkatragende Frauen schieben ihre Kinder an biertrinkenden Pensionisten in der Innenstadt vorbei, und in den Randbezirken sind nicht weniger autochthone Belgier auf dem Spielplatz auszumachen als im Zentrum. Die ganze Stadt ist bunt.

Segregation bekämpfen

Somers selbst hat dafür gesorgt. Seit der studierte Jurist und Berufspolitiker 2001 überraschend zum ersten liberalen Bürgermeister Mechelens wurde, bat er viele Mittelschichtfamilien in stundenlangen Gesprächen darum, nicht aus den einkommensschwachen Gegenden wegzuziehen. Er will durchmischte Schulklassen, diverse Wohnbezirke und multikulturelle Jugendklubs. Er will explizit keine segregierten Sportklubs, in denen nur Migranten kicken. Somers ließ sich diese Bemühungen viel kosten. In den äußeren Bezirken könne man sich nur dann pudelwohl fühlen, wenn Menschen nicht das Gefühl haben, Bürgerinnen zweiter Klasse zu sein.

Deshalb lehnt er vandalismussichere Materialien auch in Problembezirken ab. Basketballplätze aus Eisen und Stahl kreieren ein Ghetto-Feeling, sagt Somers. "Lieber stell ich drei Kameras hin und einen Polizisten an die Ecke, und dafür haben die Materialien dieselbe Qualität." Da ist er wieder, sein Mix aus Inte gration und Überwachung, der ihm 2016 den Titel World Mayor, weltbester Bürgermeister einheimste.

Hightech-Staubsauger für Mechelen. Die Stadt ist heute blitzblank.
Foto: Sommavilla

Neben der bestausgestatteten Müllabfuhr spielt auch die Mechelener Polizei alle Stückerln. Es gibt "Überwachungsbäume", vollgepackt mit Kameras. 80 zusätzliche Polizisten wurden eingestellt – viele mit Migrationsgeschichte. In seinem Buch Zusammen leben beschreibt er, wie er kriminelle Banden so lange drangsalierte, bis sich die Mechelener wieder sicher fühlen konnten.

In einer unsicheren Stadt seien Politiker und Ausländer immer die ersten Sündenböcke, und davon profitieren nur rechtsextreme Parteien, sagt Somers. Dem Vlaams Belang grub Somers seither das Wasser ab, schrumpften die Rechtsextremen von 30 auf neun Prozent runter.

Die wenigen Kritiker werfen ihm abwechselnd vor, zu integrativ oder zu restriktiv zu sein. Somers aber pfeift auf das Links-rechts-Spek trum und setzt in pragmatischer Bürgermeisterart auf Wirksames.

Kinder beschützen

Während die Rechtsextremen Mitmenschen mit Migrationshintergrund loswerden wollen, will Somers sie mit Buddy-Projekten und Sprachkursen zu einem Teil Mechelens machen. Denn wenn sich jemand "als Bürger sieht und wie ein Teil einer Gesellschaft fühlt, dann wird er vielleicht wütend, aber er wird nicht die eigene Gesellschaft angreifen", ist er überzeugt.

Auch deshalb ging der Fußballfan Somers am Tag nach den Brüsseler Terroranschlägen in die größte Moschee Mechelens und sprach davon, dass es sich leider auch um "unsere Terroristen" handle. Sie seien großteils hier in Belgien aufgewachsen und hier radikalisiert worden.

Nicht ohne Stolz erzählt er deshalb gerne die Geschichte, als 2014 von Antwerpen ausgehend Jihadisten in einem Mechelener Jugendheim rekrutieren wollten. "Sie haben sie rausgeworfen", sagt Somers lächelnd – nicht die Polizei, sondern unsere Muslime.

"Wir haben unsere Kinder beschützt", sagt er, im Wissen, dass die Extremisten eine Kleinstadt weiter, in Vilvoorde, erfolgreich waren. Allein schon deshalb gelte es heute noch mehr für Integration zu tun als gestern, sagt er. Immer und überall.

Und ohne naiv zu sein, ohne auf die zweite Seite der Medaille zu vergessen natürlich. "Deshalb entschuldige ich mich jetzt schon, wenn die Antworten etwas länger werden", sagte Somers grinsend zu Beginn des Gesprächs. (Fabian Sommavilla, 13.11.2021)