Kunst, die sich nicht wegen sittlicher Bedenken um ihre Schönheit betrügen lässt: Skulptur "Ich mache alles" (Erika Bornova, im "Museum auf Abruf").

Foto: Christian Fischer

Versuche, die absolute Schönheit mit den Anliegen einer auf die grobe Sinnenlust geeichten Kunst zu versöhnen, sind erstaunlich jungen Datums. Bis tief hinein ins 19. Jahrhundert blieb das Obszöne und Hässliche, mithin alles, was "der Lüsternheit halber gemacht" wird (Karl Rosenkranz), verpönt und von jeglicher Kunstbetrachtung ausgeschlossen.

Die Angst aller Spießbürger und Blaustrümpfe vor der Zurschaustellung nackter Tatsachen hatte gleichwohl methodische Gründe. Die "Emancipation des Fleisches" (Hegel) wurde allein schon deshalb gefürchtet, weil sie den Teilnehmern am bürgerlichen Zeitalter den Genuss an der Schönheit verhagelte, und zwar gründlich. Hatte nicht Immanuel Kant gerade erst das ästhetische Geschmacksurteil dem schlichten, "interesselosen Wohlgefallen" anheimgestellt? Überall dort, wo sich in den Künsten, zumeist unter der Anleitung von Aufklärern, der Übergang von der Ästhetik zum Leben vollzog, stand mit der Keuschheit zugleich auch die Erhabenheit auf dem Spiel.

Gewiss, die Künste waren ihrerseits klassisch geworden. Alles (vermeintlich) Unstatthafte wurde in die Bereiche der Volkskunst verdrängt. Oder die Karikaturisten in England (18. Jahrhundert) und Frankreich (19. Jahrhundert) bannten mit nervösen Federstrichen die hässlichen Begebenheiten des Alltags: mit Vorliebe festgemacht an der Bigotterie bürgerlicher Heuchler, das heißt der Besitzenden. Auch besonders luxurierende Formen des Reichtums waren und sind bis in alle Ewigkeit obszönitätsfähig.

Wollust und Schönheit

Heute, ein paar Avantgarde-Bewegungen später, scheint die Frage der Vermittlung zwischen Schönheit und obszöner Hässlichkeit nur vorgeblich mit einem Achselzucken beantwortbar. Die Versöhnung der Wollust mit dem Schönen wurde durch die Etablierung eines "Realstils", den die erotischen Künste pflegen, erfolgreich eingeleitet. Doch der Stachel sitzt tiefer. Die Idee der Abwertung der Erotik durch Abspaltung ihres schlechteren Teils, der "reinen" Wollust, schmeichelte einst der bürgerlichen Empfindsamkeit: Übrig blieb zum Beispiel für alle Leistungsdiagnostiker der Ehe der Kult der Zärtlichkeit.

Mit einer Vielzahl von Empfindlichkeiten muss jedoch gerade die zeitgenössische Kunst rechnen. Unter Hinweis auf die Ausbeutung derer, die als Bildvorlage für andere herhalten, gehen Besorgte jeder Couleur gelegentliche Zweckbündnisse ein, auch solche mit der Prüderie.

Vergessen scheint dann, dass "das Wesen der Erotik Beschmutzung" nicht nur sein kann, sondern muss (Georges Bataille). Die Freisetzung von Begehren sollte früher einmal, in der hohen Zeit der Surrealisten und anderer Triebanarchisten vor hundert Jahren, Beistand leisten für die Befreiung des Menschen: durch Erotisierung. Für uns Heutige bleibt der Pornografiegenuss hingegen eine Frage der marktwirtschaftlichen Verteilung. Das Obszöne unterliegt dem Tabu, das die Künste, weil aufgeklärt, nicht mehr zu kennen meinen. Der Kunstgenuss rechtfertigt die nackte Tatsache, indem sie durch ihn zum Lehrmittel wird. Niemand soll in der Welt der Entblößung Schaden nehmen! Vergessen scheint, dass die Entfesselung der Lüste auch Gängelung und Unterdrückung mit sich fortspült. (Ronald Pohl, 3.11.2021)