Erdoğans Präsidialsystem steht vor einem möglichen Ende.

Foto: Andreas SOLARO / AFP

Rund 27,5 Prozent Zustimmung zur Politik von Präsident Recep Tayyip Erdoğan – oder, andersherum: mehr als 70 Prozent Ablehnung – will das Meinungsforschungsinstitut Bupar in den letzten Tagen in der Türkei gemessen haben. Das ist der historisch schlechteste Wert für Erdoğan in den knapp 20 Jahren seiner Regierung. Und Bupar ist nicht allein. Fast alle relevanten Umfrageinstitute der Türkei sehen Erdoğans Regierung in einem dramatischen Abwärtstrend. Sollte es der Opposition gelingen, sich auf einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten zu einigen, könnte der mit einem deutlichen Sieg rechnen.

Zwar sind die nächsten Wahlen offiziell erst im Herbst 2023, doch es mehren sich die Anzeichen, dass Erdoğan und seine Regierung nicht mehr so lange durchhalten werden. Da sind zum einen die Gerüchte über den Gesundheitszustand des Staatschefs, die zwar von den medialen Sprachrohren der Regierung als Schmutzkampagne der Opposition abgetan werden. Doch alle Türken haben die Fernsehbilder im Kopf, wo Erdoğan mitten im Gespräch einnickte oder ohne vom Prompter abzulesen kaum noch einen Satz zu Ende bringen konnte.

Wichtiger noch als der Gesundheitszustand des starken Mannes der Türkei aber ist die dramatische wirtschaftliche Situation. Während das offizielle statistische Amt TÜIK die jährliche Inflationsrate für 2021 mittlerweile mit 19,89 Prozent ausweist, gehen Ökonomen in der regierungskritischen Zeitung "Cumhuriyet" bereits von rund 50 Prozent Inflation aus, jedenfalls für Lebensmittel und Energie, was besonders die unteren Einkommensklassen belastet.

Kollaps droht

Manche Ökonomen sehen eine Schuldenkrise wie in Griechenland 2009 kommen, die gesamte Ökonomie könnte kollabieren. Das aber würde die Regierung nicht überstehen, vorgezogene Neuwahlen, die rund 70 Prozent der Bevölkerung fordern, wären unausweichlich.

Und dieses Mal ist die Opposition vorbereitet. Anders als bei früheren Wahlen, wo Erdoğan immer auch von der Zerstrittenheit seiner politischen Gegner profitierte, sind sich diesmal die entscheidenden Personen im Oppositionslager einig. Man wird einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten präsentieren, und die wichtigsten Ziele sind eine Rückkehr zum parlamentarischen System und die Wiederherstellung einer unabhängigen Justiz.

Kemal Kılıçdaroğlu, der Vorsitzende der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP, ist mit der Opposition dabei, ein Sechsparteienbündnis zu schmieden, das geschlossen gegen Erdoğan antreten will. Dazu gehören neben der CHP die rechte İyi Parti (Gute Partei), die islamische Saadet Partisi und die früher führende konservative Demokratische Partei (DP) sowie zwei Abspaltungen der AKP, die DEVA des früheren Finanz-und Wirtschaftsministers Ali Babacan und die Zukunftspartei des von Erdoğan geschassten Ex-Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu. Von der Seitenlinie hat die kurdisch-linke HDP dem Bündnis Unterstützung signalisiert.

Sieg in wichtigsten Städten

Vorbild sind die Kommunalwahlen vom Frühjahr 2019, bei denen es dem Bündnis von CHP und İyi Parti, ebenfalls mit indirekter Unterstützung der HDP, gelungen war, die AKP in den drei wichtigsten Städten Istanbul, Ankara und İzmir zu besiegen.

Die politische Basis dieses Bündnisses sehr unterschiedlicher Parteien ist die Ablehnung des von Erdoğan durchgesetzten Präsidialsystems. Als mögliche Kandidaten der Opposition werden immer wieder die populären neuen Oberbürgermeister von Istanbul und Ankara, Ekrem İmamoğlu und Mansur Yavaş, genannt. Beide liegen in Umfragen deutlich vor Erdoğan, obwohl sie offiziell gar keine Kandidaten sind. Beide gehören der CHP an, aber die İyi-Chefin Meral Akşener hat bereits signalisiert, dass sie beide akzeptieren würde. Sie selbst spekuliert auf den Posten der Ministerpräsidentin, wenn erst einmal die Rückkehr zum parlamentarischen System vollzogen sei. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 4.11.2021)