Harald Welzer: vom eigenen Herzinfarkt zum gesellschaftlichen Kollaps.

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Die Welt steht nicht erst seit gestern vor dem Kollaps. Im Jahr 2020 hat die Masse der "toten", von uns Menschen hergestellten Dinge erstmals die biologische Substanz unseres Planeten aufgewogen. Die Welt verwandelt sich in halsbrecherischem Tempo von einer natürlichen in eine künstliche. Jede Woche kommt das Äquivalent von einem selbst zur bisher angefallenen Produktmasse dazu. Diese 52-mal-ich-Menge besteht aus Naturalstoffen, entnommen den lebendigen Böden, den Wäldern, Meeren und Flüssen: ein ebenso morbider wie kolossaler Stoffwechselprozess. Sachbuch-Soziologe Harald Welzer (63) presst ihn in folgende Formel: "Totes schlägt Lebendiges".

Zum terrestrischen Ungemach gesellt sich persönliches. Welzer, der als Direktor der Stiftung Futurzwei eifrig am Entwurf alternativer Lebensentwürfe bastelt, pflegt die dünnen Membranen zwischen den Disziplinen – Philosophie, Sozialdiagnostik, Umwelttechnik – mit erhobenem Zeigefinger zu durchstoßen. In seinem neuen Erweckungsbuch Nachruf auf mich selbst berichtet er von einem Herzinfarkt, völlig überraschend erlitten während des ersten Covid-Lockdowns.

Welzer übersteht die Krise mit geläutertem Bewusstsein. Nunmehr verlangt er von uns Lebenden Umkehr und Rückbesinnung: auf eine Kultur des Aufhörens, die mit dem persönlichen Tod rechnet und zugleich den der Gattung abwendet. Oh Mensch, sei nicht "veränderungsaversiv"! Es soll endlich Schluss sein mit dem Ausspannen von immer längeren Handlungs- und Abhängigkeitsketten. Harald Welzer verkörpert seit geraumer Zeit die Rolle des "Nostradamus 4.0".

Der spätmoderne Mahner kommt nicht mehr in der Kutte des Kanzelredners daher, er trägt Hugo Boss und misst im Nanometerbereich. Welzer mobilisiert für sein Erweckungsbuch von Reinhold Messner bis Hannah Arendt viele Springquellen der diagnostischen Kritik. Im Folgenden eine kleine Übersicht der Charaktermasken, hinter die Welzer schlüpft. Sein Ziel: die Monopolisierung möglichst vieler Kritikformen.

·Der Todespädagoge

Mit nichts rechnet der spätmoderne Mensch weniger als mit dem höchstpersönlichen Tod. Welzer aktualisiert die Rolle des barocken Strafpredigers: Dem Tod gehört der Stachel gezogen, auch wenn sich traditionelle Jenseitsvorstellungen kaum erfolgreich aktualisieren lassen.

Welzer trifft in unser aller Namen Sterbebegleiterinnen. Er befragt Menschen, die die eigene Todesdiagnose bereits gestellt bekommen haben. Das Fazit seiner Untersuchungen gipfelt in einer Art Immanenzgebot: Posthume Rücksichten solle man besser fahren lassen. "Was aufhören muss, ist vorher wichtig – in diesem Satz steckt das ganze Leben."

·Der Anthropotechniker

Welzer fordert eine Neuverhandlung des Generationenvertrags. Die reichen Gesellschaften verwandeln die Rohstoffe, die sie anderen wegnehmen, in immer mehr Produkte mit immer kürzerer Haltbarkeit. Den Müll erstatten sie den Ausgebeuteten zurück.

Welzer übernimmt vom Soziologen Stephan Lessenich das Konzept der "Externalisierungsgesellschaft": Wir hätten das Prinzip der Generativität aufgegeben und würden das Erbe unserer Kindeskinder, gemessen in Ressourcen, rücksichtslos aufzehren. Sein Appell besteht aus – nicht allzu konkreten – Rückbauforderungen. Die "entgrenzte" Aufklärung habe für die Unendlichkeitsvorstellung des immerwährenden Wachstums gesorgt.

·Der Klimaflüsterer

Als engagierter Nachhaltigkeitstechniker vermenschlicht Welzer mit Vorliebe Natur und Umwelt. Klimasystem und Biosphäre würden "ihr immer negativeres Feedback" geben. Die geknechtete Natur wird zum Anschauungsmaterial: Müllverbrennungsanlagen mit besonders dicken Schloten sollen künftig kreisrunde Rauchkringel ausstoßen (eine Idee der Architekten Jan und Tim Edler), gepustete Abschiedszeichen, um den Mentalitätswechsel zu illustrieren. Eine Art Index, weil Harald Welzer sich von der Ritualisierung notwendiger Abschiede – von Umarmungen, von gemeinsam vergossenen Tränen – mentalitätspolitisch Wunderdinge erhofft.

·Der "Exnovator"

Welzer tritt als Widersacher des Innovators auf. Er weist alle Optimierungsoptimisten brüsk in die Schranken. Für die Gewährleistung eines guten Lebens für alle sei es womöglich sinnvoller, Dinge abzuschaffen, anstatt sie laufend zu verbessern. Ohne Scheu riskiert Welzer bei Bedarf das Pathos des Kirchentaggehers: Zeit sei eben "keine Kategorie für die Bemessung des Lebens". Zum Ende seines gewiss gedankenreichen Buchs spendet der Erfolgsautor Merksätze aus wie der Priester das Weihwasser. Denn: "Der Schluss muss vor dem Ende gedacht werden." Und: "Es gibt ein Leben vor dem Tod. Und nur da." (Ronald Pohl, 5.11.2021)