Wie lassen sich Ereignisse erzählen, die aus späterer Perspektive als ein lineares Ganzes erscheinen, aus zeitgenössischer Sicht jedoch bruchstückhaft, unzusammenhängend und wider Erwarten auftraten? Ein solches Ereignis par excellence stellt der Griechische Unabhängigkeitskrieg von 1821 bis 1829 dar, dessen Ausbruch sich in diesem Jahr zum 200. Mal jährt.

Statue des Lord Byron in Mesolongi, Griechenland.
Foto: Imago

Der Wiener Autor Richard Schuberth hat diesem historischen Anlass ein Buch gewidmet: Er beleuchtet darin die verschiedenen Bruchlinien und zahlreichen Interessengruppen des Konflikts in einer multiperspektivischen Zusammenschau. In Schuberths kaleidoskopartiger Betrachtung der Geschehnisse und seiner Fokussierung auf verschiedenste "global player" und "local heros" der Epoche tritt die Vielschichtigkeit der zeitgenössischen Entwicklungen hervor.

Eine Art Klammer für das Werk bildet die schillernde Figur Lord Byrons, der als typischer Antiheld auch dann durch das Buch führt, wenn er abwesend erscheint. Der Autor, der sich wiederholt durch essayistische sowie historische Abhandlungen hervorgetan hat, wendet sich in diesem Werk kritisch dem "nation building" des 19. Jahrhunderts und dem aus damaliger Sicht noch keineswegs selbstverständlich erscheinenden Nationalitätsprinzip zu.

Literarische Pointierung

Dabei sollte man ihm keinesfalls auf den Leim gehen: Statt auf eine rein dokumentarische Darstellung zielt Schuberth darauf, durch literarische Pointierung und bisweilen satirische Überzeichnung den in seiner internationalen Relevanz bereits hochmodernen Krieg inklusive seines Vor- und Nachspiels ebenso fesselnd wie informativ abzubilden.

Schuberth gelingt es auf unterhaltsame Weise, ein Panoptikum der damaligen Situation bilderreich in Szene zu setzen: Er analysiert die ethnografische Vielfalt der vornationalen Kulturlandschaft und ihrer Identitäten (u. a. slawisch, albanisch, türkisch, jüdisch, wlachisch, suliotisch, maniotisch, phanariotisch), besonders das südbalkanische Kleften- und Banditenwesen, oder enttarnt die ökonomischen Interessen der britischen philhellenischen Kreditgeber.

Darüber hinaus wird das Geschehen in die politischen wie geistigen Diskurse der Zeit eingeordnet, etwa die Machttektonik der nachnapoleonischen Restauration oder die Bewegungen des europäischen Philhellenismus, der Romantik sowie der Aufklärung (die mit dem Diaphotismos ihr griechisches Pendant erhielt).

Frauen des griechischen Aufstands

Ein eigener Abschnitt wird den Frauen des griechischen Aufstands, der Epanastasis, gewidmet, etwa der Kapitanissa Laskarina Bouboulina oder Manto Mavrogenous, la belle Mado. Spannend liest sich die Zusammenschau der verschiedenen, häufig einander widersprechenden Motive und Zeugnisse der europäischen Philhellenen und freiwilligen Griechenlandfahrer, etwa des zwielichtigen Harro Harring.

Diese zogen als kampfbereite Aktivisten zur Rettung ihrer Idee in einen fernen Krieg und ein ihnen bis dato unbekanntes Land – hier drängen sich Leserinnen und Lesern unweigerlich aktuelle Beispiele der Zeitgeschichte auf.

Im Krieg spielten auch religiöse Motive eine große Rolle, wie sie kurz vor dem Aufstand etwa in der Proklamation des Alexandros Ypsilantis im Frühjahr 1821 deutlich zutage traten (sie zeigen sich nach Kriegsende auch rückwirkend in den altgriechischen Bibelzitaten, die als Beischriften Konrad Langes Medaillenserie der griechischen Freiheitskämpfer schmücken; die Medaillen lassen sich heute im Universalmuseum Joanneum in Graz betrachten).

Gründungsmythen

Neben den verschiedenen Motiven des Aufstands, die in späterer Zeit oftmals als Gründungsmythen des modernen griechischen Staates kodifiziert wurden und bis heute greifbar sind, widmet sich das Werk den unübersichtlichen Kampfhandlungen und Phasen des Kriegs, wie sie uns die zeitgenössische Historiografie nicht immer ohne Verzerrung überliefert.

Richard Schuberth, "Lord Byrons letzte Fahrt". 30,80 Euro / 533 Seiten. Wallstein-Verlag, 2021.
Cover: Wallstein

Formale Fehler, etwa bei der Transkription griechischer Begriffe, sowie manche kleinere Unstimmigkeit deuten auf ein nachlässiges Lektorat, scheinen jedoch in der zweiten Auflage des Werks weitgehend behoben worden zu sein. Dennoch: Schuberth sensibilisiert für die ethnische, kulturelle und ideologische Heterogenität des vornationalen Zustands im und um das spätere griechische Staatsgebilde sowie für die verschiedenen Beweggründe und Bewertungen des Kriegs.

Manche davon wurden später zur offiziellen DNA des Nationalstaates, andere fristeten ein lange Zeit vergessenes Dasein in den Reisetagebüchern der philhellenischen Freiwilligen. Als heilsame ethische Richtschnur kann vielleicht am ehesten eine spätere griechische Bewertung dienen.

So lässt der Autor zum Ausklang auch den griechischen Literaturnobelpreisträger Giorgios Seferis zu Wort kommen, der nach der Zerstörung seiner Heimatstadt Smyrna 1922 über die Schuldfrage äußerte: "Wer wird die Wahrheit je herausfinden? Das Falsche war getan worden. Die einzige richtige Frage ist: Wer wird es wiedergutmachen?" (Markus Hafner, ALBUM, 6.11.2021)