Artjom zieht am liebsten im Sommer mit den Rentieren herum.

Foto: STANDARD / André Ballin

Der Elfjährige und sein Rentier Barin.

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Artjom würde gerne Touristen die Taiga zeigen.

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Pjotr Filipowitsch zieht seinen Enkel groß.

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Inna Koscharina will ihren Kindern die traditionelle Sprache lehren.

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In Nadeschda Michailownas Geschäft werden die Lebensmittel teurer.

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Ohrenbetäubend dröhnen die Rotoren der Mi-8. Unter dem eleganten Transporthubschrauber gleitet die Taiga hinweg. Die grünen Wipfel der Lärchen und Zederkiefern sind durchsetzt vom gelbgefleckten Laub der Birken. Je weiter es nach Norden geht, desto karger wird die Landschaft. Weiß-Grau bestimmt nun das Bild der Waldtundra.

Während der mächtige Jenissej, Eurasiens zweitgrößter Strom, und auch sein Nebenfluss, die Steinige Tunguska, hier noch fließen, ist die Surinda, die jetzt im Blickwinkel der Helikopter-Bullaugen erscheint, schon zugefroren. Dahinter in der Ebene tauchen die Holzbaracken der gleichnamigen Ortschaft Surinda auf, der südlichste Punkt der russischen Arktiszone.

Surinda liegt Mitten in Russland.

Der Herr des Buben

Etwa 200 Menschen leben hier. Die meisten von ihnen gehören dem indigenen Volk der Ewenken an. So wie Artjom, der kleine Hirtenjunge. Bekleidet mit Pelzmütze und Fellschuhen, braun-weißen Rentierlederhosen und einer blau-roten Weste mit den gestickten traditionellen Mustern, hält er ein Rentier am Strick. "Das ist Barin (auf Deutsch: Herr), der gehört mir", erklärt der Elfjährige stolz.

Im Hintergrund ist ein Tschum, die traditionelle Zeltbehausung der Nomaden des Nordens, zu sehen. Doch der erste Eindruck trügt: Nicht nur der rote Pullover mit dem Ärmelschriftzug BROOKLYN, der unter dem Nationalkostüm hervorlugt, zeigt an, dass Artjom Kontakt zur Zivilisation hat – auch die Schule, vor der Artjom posiert, ist dem Jungen nicht fremd. Von September bis Ende Mai drückt er in Surinda die Schulbank, hat Turnen, strebert Mathe, Russisch und Literatur, Biologie und Geografie, Englisch und auch ein bisschen Ewenkisch.

Zentral und weit

Ewenkien ist Artjoms Heimat. Die Region liegt im Herzen Russlands. Am See Wiwi hat das Land seinen geografischen Mittelpunkt. Von hier ist es zum Nordpolarmeer genau so weit wie an die Südgrenze des Landes. Kaliningrad im Westen ist ebenso weit entfernt wie Uelen im äußersten Osten Tschukotkas.

So zentral – und doch so weit. Denn viele Straßen führen nach Rom, aber kaum eine nach Ewenkien. Die Region ist zehnmal so groß wie Österreich, reich an Öl, Gas und Gold, und doch leben hier nur 15.000 Menschen – so viele wie in Bruck an der Mur. Seit der Gebietsreform 2007 ist Ewenkien Teil des sibirischen Großkreises Krasnojarsk, dabei liegt die Gebietshauptstadt rund 1.000 Kilometer weiter südwärts.

Der dortige Flughafen steuert mit Kleinflugzeugen die drei größten ewenkischen Ortschaften Baikit, Tura und Wanawara an. Von dort müssen Bewohner und die wenigen Gäste der Region mit dem Hubschrauber weiter.

Nur aus der Luft erreichbar

Im Sommer und im Winter sind die großen Ortschaften mit ein paar Tagesreisen auch per Geländewagen zu erreichen. Heuer hat sich der Winter um einen Monat verspätet. Das kommt immer häufiger vor – eine Folge des Klimawandels. Nach Angaben des Krasnojarsker Ökologen Sergej Werchowetz ist die Durchschnittstemperatur in der Region innerhalb der letzten zehn bis 15 Jahre um mehr als ein Grad gestiegen. Die Tiefe der Permafrostböden geht zurück. Praktisch bedeutet das: Wenig Schnee und Temperaturen um den Gefrierpunkt Ende Oktober erlauben kein Durchkommen, die Wege sind aufgeweicht und verschlammt.

Dann wird es teuer, weiß Nadeschda Michailowna, eine Ladenbesitzerin aus Baikit. "Kartoffeln kosten 120 Rubel das Kilo (1,50 Euro), Kohl kostet 120 Rubel, und das bei unseren Gehältern", klagt sie. Umgerechnet weniger als 240 Euro verdienten die Verladearbeiter am Flughafen, rechnet die 70-Jährige vor. Eine Krankenschwester zwischen 310 und 380 Euro. Kommerzielle Jobs gibt es ohnehin kaum, die meisten Stellen sind im sozialen Bereich und dienen der Eigenversorgung und dem Betrieb der Siedlungen. Die Ölgesellschaften nehmen lieber Montagearbeiter aus anderen Regionen mit höherer Qualifikation.

Zurück nach Europa

So ist einst auch Nadeschda Michailowna in den Norden gekommen. Die gebürtige Russin ist seit 50 Jahren in Ewenkien, nun will sie zurück ins europäische Russland. Nicht nur, weil es dort wärmer ist, sondern vor allem wegen der besseren Versorgung.

Abgeschiedenheit und mangelnde Infrastruktur sind Probleme, die weitere nach sich ziehen: Internet gibt es nur stellenweise, und es ist für russische Verhältnisse extrem teuer. Ein WLAN-Anschluss kostet pro Monat 5.000 Rubel (gut 60 Euro), etwa zehnmal so viel wie in Moskau. Selbst das Mobilfunknetz weist zahlreiche Funklöcher auf: Diese Verhältnisse locken wenige junge Spezialisten in den Norden: Es mangelt an Ärztinnen und Ärzten und Lehrerinnen und Lehrern.

Bedächtiger Lebensrhythmus

Inna Koscharina will trotzdem nicht fort. Die 41-jährige Wildhüterin kommt aus einer gemischten russisch-ewenkischen Familie. "Zu Hause wurde Russisch gesprochen, aber Mutter und Oma haben Ewenkisch miteinander geredet", erinnert sie sich. Auch sie möchte ihren Kindern die Sprache weitergeben, denn sie fühlt sich wohl in ihrer Heimat. "Hier haben wir noch Zeit zum Leben", sagt sie. Der Alltag sei weniger hastig.

Trotz Arbeit und ihrer drei Kinder komme sie noch zum Singen, erzählt sie. Die Region fördert mit Haushaltsgeldern den Erhalt der ewenkischen Folklore, und so übt sie mit sechs Mitstreiterinnen zweimal wöchentlich im örtlichen Kulturhaus. Ab und zu tritt die Gruppe auch auf – am liebsten beim Mutschun, dem ewenkischen Neujahr, das im Sommer gefeiert wird.

Vom Opa aufgezogen

Der Sommer ist auch Artjoms liebste Jahreszeit. "Dann bin ich in der Taiga mit den Rentieren unterwegs", erzählt er. Nur auf die Frage nach seinen Eltern wird er stumm: Artjom ist Waise. Er wird von seinem Großvater Pjotr Filipowitsch, einem Rentierzüchter, großgezogen. "Meine Tochter hat sich erkältet und ist daran gestorben, das kommt vor", sagt Pjotr Filipowitsch mit einem schweren Achselzucken.

Er selbst ist 53 Jahre alt, sieht aber viel älter aus. Der Rücken ist gebeugt, die Haut wettergegerbt. Die Jahre in der kalten Wildnis haben tiefe Furchen in seine Stirn gegraben und ihn bereits eine Reihe von Zähnen gekostet. Stets ist er mit seiner Herde auf der Suche nach neuen Weideplätzen unterwegs – auch im letzten Winter, als die Temperaturen wochenlang bei minus 50 bis minus 60 Grad lagen. Im Jahr macht er bis zu 900 Kilometer. In zwei Jahren geht er in Pension, doch aufhören will er noch nicht. "Ich hoffe, dass ich auch danach noch weitermachen darf", sagt er. Er wolle aus Artjom noch einen echten Rentierzüchter machen, meint der Alte.

Souvenirverkauf

Doch gibt es eine Zukunft für diesen Lebensstil? Demid Topotschonok glaubt fest daran. "Die Menschen sehnen sich nach einer Rückkehr zur echten Natur", sagt er. Der 31-Jährige kommt aus Surinda, hat in Krasnojarsk Wirtschaft studiert und ist zurückgekommen, hat eine Schnitzerei aufgemacht und lässt aus Rentierhorn Souvenirs formen.

Im nächsten Sommer will er mit Fördergeldern ein kleines Hotel eröffnen, das erste in Surinda, direkt am Fluss. Zwölf Zimmer soll die aus Holz gezimmerte Herberge haben. "Mehr braucht es nicht, denn wir wollen keinen Massentourismus", begründet er. Die ersten Anfragen hat Topotschonok schon bekommen. Artjom jedenfalls würde den Fremden gern seine Taiga zeigen. (André Ballin aus Baikit, 8.11.2021)